»Warum fliegen wir nicht zur Großen Insel?« schrie sie gegen den Lärm der Rotorblätter an.
Rob legte die Hand an sein Ohr, als könne er sie nicht verstehen.
Aber er musste sie verstanden haben! Wütend zeigte sie mit dem Finger auf den Kompaß und auf die Insel unter ihnen. »Das ist nicht die Große Insel, verdammt noch mal! Du hast uns angelogen! Willst du uns umbringen?« Als Rob sie erstaunt ansah, schrie sie: »Warum? Warum tust du das?« Plötzlich schien ihr alles klar. Natürlich war es ihr gelungen zu entkommen - sie hatten ja nichts anderes gewollt. Und sie hatten es perfekt geplant:
Der Mann, der nur einige Sekunden zu spät aus dem Labor gekommen war, um zu verhindern, dass sie mit dem Lift nach oben fuhren.
Der Alarm, der Sekunden zu spät ausgelöst worden war, so dass die Wachen sie nicht mehr einholen konnten, bevor sie in den Hubschrauber gestiegen waren.
Und schließlich der Hubschrauber selbst, der so vollkommen unbehelligt mit ihnen an Bord hatte davonfliegen können.
Was für eine Närrin sie doch war! Sie wollte sich auf Rob stürzen, ihn härter schlagen, als sie den Wachmann geschlagen hatte. Sie wollte ihn erwürgen, aus dem Hubschrauber stoßen. Sie hob die Hand. »Du Schwein!« schrie sie. »Du verdammtes Schwein. Du hinterhältiger Schuft.«
Rob packte Katharine an den Handgelenken und hielt sie fest. »Wovon redest du, Katharine?« fragte er. »Was ist los?«
»Was los ist?« schrie sie. »Mein Gott, Rob, für wie dumm hältst du mich? Glaubst du nicht, ich weiß mittlerweile, warum du gesagt hast, dass Michael nur höchstens fünfzehn Minuten atmen muss?«
»Kath...«
»Ich hätte wissen müssen, dass man länger braucht, um zur Großen Insel zu kommen. Aber ich dachte, du hättest einen besonderen Plan! Ich habe dir vertraut, verdammt noch mal! Ich habe dir vertraut!«
»Schluß jetzt!« Robs Stimme war auch ohne die Kopfhörer gut in der Kabine zu hören. »Verrate mir jetzt endlich, wovon, zum Teufel, du redest!«
»Das weißt du selbst doch am besten!« schrie Katharine zurück und deutete nach unten. Sie hatten die Küstenlinie überflogen, und der Hubschrauber bewegte sich tief über dem Wasser, direkt auf die kleine Insel zu, die sie gesehen hatte. »Das ist nicht Hawaii, Rob. Was ist es? Hat Yoshihara hier ein weiteres Labor? Oder willst du uns einfach in den Ozean schmeißen?«
Mit aschfahlem Gesicht sah Michael seine Mutter an. Er lockerte den Griff an der Plastiktüte, und sofort füllte sich die Kabine mit ätzenden Dämpfen.
Augenblicklich ließ Rob Katharines einen Arm los und umklammerte die Beutelöffnung. »Sei vorsichtig!« rief er. »Du brauchst es noch etwa fünf Minuten. Paß auf, dass nicht noch mehr entweicht!«
Als Michael die halb geleerte Tüte zögernd wieder an den Mund setzte, wandte sich Rob an Katharine. »Der Wind!« rief er. »Wir können nicht direkt zur Großen Insel fliegen - Michael würde es nie schaffen! Aber der Wind trägt die Dämpfe der Eruption nach Westen, und deshalb müssten wir auf der anderen Seite von Koho'olawe am meisten davon abbekommen. Dann können wir wenden und nach Westen fliegen, genau in den Rauch hinein. Für uns dürfte es etwas hart werden, aber Michael müsste allein atmen können. Es dauert länger, aber zumindest hat er so eine Chance!«
Katharine suchte in Robs Gesicht nach der Wahrheit.
Und sie sah nicht nur die Wahrheit dort, sondern auch seine Liebe und den Schmerz darüber, dass sie ihm mißtraut hatte.
Und als hätte das nicht genügt, änderte der Hubschrauber plötzlich die Richtung, und sie hörte die Stimme des Piloten: »Macht ein Fenster auf. Wir wollen mal sehen, ob unser Junge atmen kann!«
Rob ließ Katharine los und öffnete das Fenster auf seiner Seite. Katharine hatte frische Meeresluft erwartet, aber die vulkanischen Dämpfe, die mit der Luft hereinwaberten, stachen ihr sofort in die Augen.
»Bingo!« rief der Pilot. »Was für eine Brise!«
Als der Helikopter sein Wendemanöver beendet hatte, hielt Katharine nach der großen Landmasse Ausschau, die jeden Augenblick aus dem Meer auftauchen musste, aber Rob sah sie an und schüttelte den Kopf. »Du kannst die Große Insel noch nicht sehen, es ist zu dunstig. In zehn bis fünfzehn Minuten vielleicht. Glaub mir, sie ist immer noch da.« Dann wandte er sich ihrem Sohn zu. »Und, wie ist es, Michael? Kannst du atmen, oder haben wir aufs falsche Pferd gesetzt?«
Katharine sah Michael an. Er atmete die Gase aus dem Beutel aus und versuchte dann erneut, die Luft in der Kabine einzuatmen. Auch dieses Mal begann er zu husten, doch dann beruhigte er sich, zögerte und atmete die Kabinenluft. Nach einer längeren Pause, in der Katharine um ihn bangte, hielt er schließlich den Daumen hoch. »Besonders toll ist es nicht«, sagte er. »Aber ich fühle mich besser als gestern in der Schule.«
»Halt dir zwischendurch weiter den Beutel an den Mund, aber nur, wenn es nicht anders geht«, empfahl Rob. Dann sagte er grinsend zu Katharine. »Und was dich betrifft, ich vergebe dir dein Mißtrauen.« Er umarmte sie.
Eine halbe Stunde später flog der Hubschrauber mit weit geöffneten Fenstern die Kalapana-Küste südwestlich von Hilo entlang. Der Berg war mit glühenden Eruptionskanälen gespickt, und Michael betrachtete voller Faszination die Lavaströme, die sich wie brennende Schlangen über die Bergflanke wanden.
Der Ozean stürzte sich auf die Steinklippen an der Küste, die im unheimlichen silbernen Mondlicht gut zu erkennen waren. Das Meer schäumte vor Wut, weil der Berg es gewagt hatte, mit langen Fingern aus geschmolzenem Felsen in sein Reich einzudringen. Der Pazifik startete einen Gegenangriff nach dem anderen, indem er riesige Wassermassen gegen die Felsen schleuderte.
Die Gischt spritzte hoch wie Geschoßhülsen, die aus Maschinengewehren geschleudert wurden.
An der Frontlinie der Schlacht stiegen riesige Dampfwolken in die Luft, dort, wo der Ozean das Feuer des Berges erstickte. Hinter den Linien, am Fuß des Berges, stiegen Rauchsäulen auf.
Der Hubschrauber überquerte die Küste und flog die Bergflanke hinauf. Der Boden unter ihnen bestand aus nichts als nackter Lava. Nur an wenigen Stellen hatten sich ein paar struppige Büsche festklammern können. Wohin Michael auch blickte, überall stieg Rauch oder Dampf aus den Eingeweiden des Berges auf. Die Luft roch ätzend nach Schwefel.
Er sog ihn tief in seine Lunge ein und spürte die Wärme, die seinen Körper erfüllte, als er die Gase umwandelte. »Wohin fliegen wir?« rief er.
»Der Pilot sagt, dass es hier irgendwo eine Lichtung gibt, wo er landen kann«, antwortete Rob. »Du sollst so nah wie möglich an diese Eruptionskanäle heran.«
In der Ferne schossen Flammen wie ein Leuchtfeuer aus einem Krater. Als der Pilot höher ging und über den Krater flog, sahen sie zum erstenmal dessen höllischen Inhalt. Lava brodelte mit teuflischer Wut, Flammen hüpften über die Felsen, böse Fontänen aus geschmolzenem Stein schossen in die Höhe. Einige von ihnen zerbrachen in der Luft und stürzten in den Krater zurück, andere explodierten in einem Feuerregen, der im Wind trieb, bis er so weit abgekühlt war, dass der feurige Glanz erstarb.
Die Hitze stieg in Wellen auf, und die Luft über dem weit aufgerissenen Höllenmaul, in das Michael starrte, schimmerte und tanzte. Die Flammen wirkten nahezu hypnotisch und bezauberten Michael, der das Spektakel wie in Trance betrachtete.
Erst als der Hubschrauber wieder tiefer ging und der Kraterkessel aus seinem Blick verschwand, dachte Michael wieder an ihren Zielort. Eine Minute später landete der Pilot auf einer Lichtung, die Michael in dieser Wüste aus Feuer und Lava wie eine Oase vorkam. Aus irgendeinem Grund hatte der Lavastrom ein kleines Areal verschont, auf der ein Wäldchen aus struppigen Kiawe-Bäumen stand. Wie durch ein Wunder bedeckte sogar dünnes Gras den Boden.
In der Mitte der Lichtung befand sich eine Feuerstelle, ein Steinkreis ähnlich dem Ort, wo seine Mutter das Skelett ausgegraben hatte.