»Zuckerrohrfeuer«, erklärte Rob. »Sie brennen die Felder ab, weil es dann leichter ist, das Zuckerrohr zu ernten. So brauchen sie weniger Ballast herumzuschleppen. Wenn man hier wohnt, schließt man automatisch die Fenster, sobald man eine solche Rauchsäule sieht.«
»Aber wieso? Die ist doch ein paar hundert Meter entfernt«, sagte Michael. In diesem Augenblick wehte eine schwarze Rußwolke durchs Fenster, und als Michael sie wegwischen wollte, schmierte er sich sein ganzes Hemd voll. Rob lachte, und Michael spürte, wie er rot wurde.
»Das nennt man den Maui-Schnee«, sagte Rob.
Während der Wagen die Flanke des Haleakala hinaufstieg, wichen die Zuckerrohrfelder Ananasplantagen, die ihrerseits einige Kilometer weiter von Weideland abgelöst wurden. Aber dieses Land ähnelte kaum dem auf den Farmen im Staat New York. Diese Weiden leuchteten türkis-grün und waren mit Jacarandabäumen mit Lavendelblüten gesprenkelt.
Nach ein paar weiteren Kilometern bog Rob schließlich von der Straße ab. »Hier wirst du zur Schule gehen«, sagte er und nickte in Richtung einiger Gebäude zu ihrer Rechten. Michael sah aus dem Fenster auf ein Schulgelände, das keinerlei Ähnlichkeit mit seiner New Yorker Schule besaß. Dort hatte er einen riesigen Backsteinkasten besucht, mit eingezäuntem, asphaltiertem Schulhof, der zugleich als Sportplatz diente. Diese Schule hier bestand aus mehreren flachen Gebäuden, die im Schatten riesiger Bäume standen und von weiten Rasenflächen umgeben waren. Dahinter lagen ein Baseballfeld, Basketball- und Tennisplätze sowie ein Footballfeld und eine Laufbahn.
Ein halbes Dutzend Jugendliche liefen ihre Runden, und als sie an ihnen vorbeifuhren, schätzte Michael bereits ihre Schnelligkeit und ihre Ausdauer ein und verglich sich mit ihnen.
Seine Mutter drehte sich zu ihm um. »Gestehst du mir wenigstens zu, dass ich mit dem Leichtathletikteam recht hatte?«
Michael versuchte das Grinsen zu unterdrücken, das seine schlechte Laune bedrohte, aber er schaffte es nicht ganz. »Muss ich wohl, oder?« räumte er ein. »Und ich kann auch kaum behaupten, dass die Schule in New York schöner war.«
»Halleluja!« rief Katharine. »Vielleicht gibt es doch noch ein Leben nach New York.«
Nach etwa anderthalb Kilometern erreichten sie eine kleine Ortschaft. »Das ist Makawao«, sagte Rob. »Früher war es eine Cowboystadt, aber heute ist es die New-Age-Metropole von Maui. Hier sind alle möglichen Therapieschulen vertreten. Die meisten interessanten Leute wohnen hier, ich natürlich auch.«
Während der Explorer rechts abbog, sah Katharine zu ihrer Rechten eine lange Reihe mit Gebäuden, die aussahen, als dienten sie als Kulisse in einem Western.
»Sind die echt?« fragte sie.
Rob nickte. »Sie sind natürlich hergerichtet, aber im Grunde sind sie so geblieben, wie sie damals waren. Allerdings werden dort jetzt keine Sättel und kein Zaumzeug mehr verkauft, sondern Kräutertees und homöopathische Salben.«
Kurz hinter Makawao wurde die Straße schmaler und führte in einer Reihe von Haarnadelkurven steil den Berg hinauf. Bald wurde der tropische Wuchs um die Stadt herum von Eukalyptuswäldern abgelöst, dann kamen Pinien und Zedern. »Wohin fahren wir?« fragte Katharine schließlich.
»Zu eurem Haus«, sagte Rob. »Ich habe eins gefunden, das nahe bei der Ausgrabungsstelle liegt. Es ist nicht allzu prächtig, aber von dort ist es nur eine Viertelstunde bis zur Schulbushaltestelle.« Er sah in den Rückspiegel. Falls Michael zugehört hatte, hatte er jedenfalls nichts dazu zu sagen, und als Rob Katharine ansah, zuckte sie nur mit den Schultern. »Ich hoffe, es gefällt dir«, sagte Rob.
»Scheint ein bißchen weit weg von allem zu liegen, oder?« kommentierte Michael von hinten. »Ich meine, ich habe keinen Führerschein, und bis zur Stadt ist es furchtbar weit, oder?«
»Wie wär's mit einem Fahrrad?« schlug Rob vor.
Michael sah auf die steil ansteigende Straße hinaus. »Runter geht es vielleicht, aber wie soll man hier raufkommen? Mit fünfzig Gängen vielleicht.«
Mit dem Anflug eines schlechten Gewissen erkannte Rob, dass Michael recht hatte und er bei der Auswahl des Hauses seine Situation eigentlich gar nicht bedacht hatte. »Vielleicht habe ich tatsächlich einen Bock geschossen«, gab er zu. »Im Grunde habe ich wohl das Haus ausgesucht, das mir am besten gefallen hat. Aber wenn es euch wirklich nicht zusagt, könnt ihr euch ein anderes suchen, okay?«
Michael zuckte mit den Schultern, sagte aber nichts mehr.
Sie ließen einen Zedernwald hinter sich, und nachdem sie vorsichtig eine weitere Haarnadelkurve durchfahren hatten, bogen sie auf eine lange und schmale Straße, die von Eukalyptusbäumen gesäumt wurde. In einigem Abstand voneinander standen an beiden Seiten ein paar kleine, verwitterte Holzhäuser. Nach zweihundert Metern hatten sie das Ende der Straße erreicht. Dort war eine schmale Durchfahrt durch einen Zaun gebrochen worden, der gänzlich aus Eukalyptusscheiten bestand, die man zwischen die Stämme noch lebender Bäume geklemmt hatte. Hinter dem Zaun zeigte sich eine schattige Lichtung, in deren Mitte das zauberhafteste Haus stand, das Katharine je gesehen hatte.
Es war einstöckig und ganz von einer breiten Veranda umfasst. Das Dach war über der Vordertür leicht abgeknickt und ragte steil hinauf. Schon auf den ersten Blick erkannte Katharine, dass das Haus vollkommen rechteckig konstruiert war. Jede Seite des Daches wurde von einem kleinen Giebel durchbrochen. Die Pfeiler und Träger, welche die Veranda stützten, waren reich verziert, so dass das Haus trotz seiner grundlegend polynesischen Architektur etwas Viktorianisches ausstrahlte.
Drinnen gab es ein großes Wohnzimmer, eine Küche, zwei Schlafzimmer und ein Bad. Vor der Küche war ein Teil der Veranda umbaut worden und bildete so eine Art Wäscheraum.
Hinter dem Haus und dem Eukalyptuswald zog sich Weideland den Berg hinab, ein dichter Teppich, der hier und da von ein paar Eukalyptus- und Jacarandabäumen durchbrochen wurde. Hinter den Weiden öffnete sich der Blick auf beide Küsten der Insel, das Tal, das sie trennte, und die West-Maui-Berge, deren von Wind und Regen erodierte Flanken eine Wildnis von zerklüfteter Schönheit bildeten.
Katharine stand auf der Veranda und genoß die kühle, eukalyptusgetränkte Luft. Am westlichen Himmel ging die Sonne unter, die Vögel zwitscherten, und wohin sie auch blickte, leuchteten die üppig wachsenden tropischen Pflanzen in einer ganzen Palette von Farben.
Sie wandte sich Michael zu, der gerade aus dem Haus kam, eine Broschüre in der Hand. »Nun, was sagst du?« fragte sie.
Michael sah in die Ferne, und sie spürte, wie er sich förmlich dagegen wehrte, die Schönheit der Aussicht zu genießen. Schließlich musste er aufgeben. »Na ja, vielleicht hatte ich unrecht«, räumte er ein. »Vielleicht ist es doch nicht der schrecklichste Ort der Welt, okay?«
»Du hasst deine alte Mutter also nicht?«
»Ich hasse dich bestimmt nicht«, antwortete Michael. Er musste lächeln, weil sie so übertrieben erleichtert wirkte. »Und du bist nicht alt, okay? Und wenn du wirklich willst, dass ich das Handtuch werfe und zugebe, dass du mit allem recht hattest, dann ...« Er ließ den Satz unbeendet, während er ihr die Broschüre reichte. »Kann ich mich da anmelden?« fragte er. »Bitte.« In seiner Stimme schwang Hoffnung mit, aber auch die Erwartung, die alte Antwort zu hören.
Katharine nahm die Broschüre. Noch bevor sie einen Blick darauf geworfen hatte, wusste sie, dass es sich um Werbung für einen Tauchkurs handelte. Zuerst wollte sie schlichtweg nein sagen, aber noch ehe sie den Mund aufmachen konnte, tauchte Rob hinter Michael in der Tür auf.
»Es ist wirklich völlig ungefährlich«, sagte er. »Hunderte von Touristen machen das jeden Tag, von kleinen Kindern bis zu Leuten in den Achtzigern.«
Katharine blickte auf und sah Rob kurz in die Augen, bevor sie sich Michael zuwandte. Erinnerungen durchfluteten ihren Kopf, alptraumartige Erinnerungen daran, wie ihr Sohn mitten in der Nacht nach Luft schnappend aufgewacht war, kaum in der Lage zu atmen. Was, wenn er hundert Meter unter Wasser einen Anfall bekam? Was würde er dann tun? Wenn ihm irgend etwas zustoßen würde ...