Bryce erinnerte sich an die Geschichte. Es war die Zeit, als Ozmian entdeckte, dass sie die ganze Zeit sowohl mit ihrem CrossFit-Trainer als auch mit einem früheren Freund aus der Ukraine geschlafen hatte. Es gab sogar Hinweise, dass sie es am Morgen der Hochzeit mit beiden getrieben hatte. So weit, so bekannt. Sie hatte behauptet, dass er sie geschlagen habe, aber das wurde vor Gericht widerlegt. Am Ende reichte sie die Scheidung ein und erleichterte Ozmian um neunzig Millionen Dollar, was gar nicht so leicht gewesen war, selbst bei einem mehrfachen Milliardär.
Bryce beugte sich vor und sagte mit einer Stimme voller Mitgefühclass="underline" »Das muss ja ganz schrecklich für Sie gewesen sein.«
»Ich hätte es gleich ahnen können – als mein kleiner Poufie ihn sofort beim ersten Treffen gebissen hat. Und dann –«
»Ich frage mich«, steuerte er das Gespräch in eine andere Richtung, »ob Sie mir wohl etwas über seine Beziehung zu seiner Tochter Grace erzählen könnten.«
»Nun, Sie wissen ja, sie stammt aus seiner ersten Ehe. Meine Tochter war sie nicht, das steht mal fest. Grace – was für ein Name!« Sie stieß ein giftiges Lachen aus. »Sie und Ozmian hatten eine enge Beziehung. Sie waren aus demselben Holz geschnitzt.«
»Wie eng?«
»Er hat sie nach Strich und Faden verwöhnt! Sie hat ihr ganzes Studium lang nur Party gemacht und es nur abgeschlossen, weil ihr Vater dem College eine neue Bibliothek geschenkt hat. Dann hat sie sich auf eine zweijährige Grand Tour durch Europa begeben, während derer sie von einem Eurotrash-Bett ins nächste gesprungen ist. Hat ein Jahr auf Ibiza verbracht, ist da durch die Klubs gezogen. Dann ist sie hierher zurückgekommen und hat Daddys Geld durchgebracht. Dabei hat sie das Bruttosozialprodukt von Kolumbien gesteigert, da bin ich mir sicher.«
Das war Harriman neu. Während der Scheidung war die Tochter für die Presse mehr oder weniger tabu gewesen. Selbst die Post wollte ein junges Mädchen nicht in solch eine Schlammschlacht hineinziehen. Doch jetzt war sie tot, und Harriman merkte, wie sein Reporter-Radar sich zu drehen begann.
»Wollen Sie damit sagen, dass sie Drogenprobleme hatte?«
»Probleme? Sie war süchtig!«
»Hat sie ab und zu Drogen genommen, oder war sie wirklich suchtkrank?«
»Sie war zweimal in der Reha, in dieser Promi-Klinik in Rancho Santa Fe, wie heißt die noch gleich? ›Der wunderbare Weg‹.« Wieder lachte sie abfällig.
Der Martini war ausgetrunken, der Butler brachte ihr ungefragt noch einen und nahm das leere Glas mit.
»Um welche Drogen geht es hier? Kokain?«
»Um alle! Und Ozmian hat es ihr einfach erlaubt! Ein Opportunist der übelsten Sorte. Schrecklicher Vater.«
Endlich kam Harriman zum Kern der Sache. »Wissen Sie, Mrs. Ozmian, von irgendetwas in Grace’ Vergangenheit, das zu ihrer Ermordung geführt haben könnte?«
»So ein Mädchen nimmt immer ein schlimmes Ende. Ich hab mir in der Ukraine den Hintern abgerackert, bin nach New York gekommen, keine Drogen, kein Alkohol, ich habe gesunde Salate ohne Dressing gegessen, zwei Stunden täglich Fitness gemacht, nachts zehn Stunden geschlafen –«
»Gab es irgendetwas, das sie vielleicht getan hat, beispielsweise Drogen kaufen oder verkaufen, sich mit Kreisen des organisierten Verbrechens einlassen oder irgendetwas anderes, das zu ihrer Ermordung führte?«
»Was das Dealen mit Drogen betrifft, darüber weiß ich nichts. Aber es gab da etwas in ihrer Vergangenheit. Etwas Fürchterliches.« Sie zögerte. »Ich sollte das wahrscheinlich nicht sagen – Ozmian hat mich ja dazu verpflichtet, im Rahmen der Scheidung einen Geheimhaltungsvertrag zu unterschreiben …«
Sie verstummte abrupt.
Harriman kam sich vor wie ein Staatsanwalt, dessen Spitzhacke gerade eben von einer Ader aus purem Gold abgeglitten war. Jetzt musste er nur noch darin herumstochern und etwas Erde wegwischen. Aber er blieb ganz cool. Er hatte gelernt, dass man eine Frau wie diese, statt dass man mit einer bohrenden Frage nachfasste, am ehesten dadurch aus der Reserve lockte, dass man schwieg. Die meisten Menschen sahen sich genötigt, in die Stille hinein irgendetwas zu sagen. Er tat so, als sähe er seine Notizen durch, und wartete, bis der zweite Martini Wirkung zeigte.
»Nun, Ihnen kann ich es ja sagen. Jetzt, wo sie gestorben ist, ist die Geheimhaltungsvereinbarung doch sicher nicht mehr gültig, oder?«
Wieder Stille. Bryce war klug genug, eine derartige Frage nicht zu beantworten.
»Ganz zum Ende unserer Ehe …«, sie atmete tief durch, »hat Grace, betrunken und high, einen acht Jahre alten Jungen überfahren. Er lag im Koma und ist zwei Wochen später verstorben. Einfach furchtbar. Die Eltern mussten die lebenserhaltenden Maschinen abschalten lassen.«
»O nein«, sagte Harriman aufrichtig entsetzt.
»O ja.«
»Und was ist dann geschehen?«
»Daddy hat sie rausgepaukt.«
»Wie?«
»Mithilfe eines gerissenen Anwalts. Und mit Geld.«
»Und wo hat sich das Ganze zugetragen?«
»In Beverly Hills. Wo sonst? Ozmian hat sämtliche Akten versiegeln lassen.« Sie hielt inne, trank ihr zweites Glas aus und stellte es triumphierend auf den Tisch zurück. »Nicht, dass das jetzt noch eine Rolle spielt – nicht für sie. Wie es aussieht, hat das Glück das Mädchen am Ende verlassen.«
9
Howard Longstreets Büro im großen FBI-Gebäude am Federal Plaza sah genauso aus, wie Pendergast es in Erinnerung hatte: spärlich eingerichtet, voll mit Büchern zu jedem nur erdenklichen Thema – und ohne Computer. Eine Wanduhr verriet jedem, den es interessierte, dass es zehn Minuten vor fünf war. Aufgrund der beiden staubigen Ohrensessel und dem kleinen Beistelltisch auf einem handgeknüpften Kaschanteppich in der Mitte sah das Zimmer eher aus wie der Salon in einem alten englischen Herrenklub als das Büro einer Strafverfolgungsbehörde.
Der hochgewachsene Longstreet saß in einem der Ohrensessel, der unvermeidliche »Arnold Palmer« stand auf einem Untersetzer auf dem Tisch. Er änderte seine Sitzhaltung und strich sich mit der Hand durch die langen grauen Haare, dann machte er mit derselben Hand eine Geste, Pendergast solle in dem anderen Sessel Platz nehmen.
Pendergast setzte sich. Longstreet trank einen Schluck und stellte sein Glas zurück auf den Untersetzer. Demonstrativ bot er Pendergast keinen Drink an.
Die Stille dehnte und dehnte sich, bis der Stellvertretende Direktor Nachrichtendienst des FBI knapp und ein wenig schneidig sagte: »Agent Pendergast, ich habe inzwischen Ihren Bericht vorliegen. Ich möchte insbesondere Ihre Meinung zu der Frage hören, ob die beiden Morde von ein und derselben Person begangen wurden.«
»Ich fürchte, ich habe dem Ihnen zum ersten Mord vorliegenden Ermittlungsbericht nichts hinzuzufügen.«
»Und was ist mit dem zweiten Mord?«
»In den Fall bin ich nicht involviert.«
Ein Ausdruck der Überraschung huschte über Longstreets Gesicht. »Sie sind nicht involviert? Warum nicht?«
»Ich habe keine Anweisung erhalten, in dem Mord zu ermitteln. Es scheint kein Fall für die Bundespolizei zu sein, Sir, es sei denn, die beiden Morde hängen zusammen.«
»Unverschämter Kerl«, brummelte Longstreet leise und sah Pendergast stirnrunzelnd an. »Aber Sie wissen schon, dass es einen zweiten Mord gegeben hat, oder?«
»Ja.«
»Und Sie glauben nicht, dass die beiden Fälle zusammenhängen?«
»Ich ziehe es vor, keine Mutmaßungen anzustellen.«
»Mutmaßungen anstellen, verdammt! Haben wir es nun mit einem Täter zu tun oder mit zwei?«
Pendergast schlug die Beine übereinander. »Ich will einmal die Optionen durchgehen. Erste Möglichkeit: Ein und derselbe Mörder hat beide Morde begangen. Ein dritter Mord würde ihn als Serienmörder definieren. Zweite Möglichkeit: Der Mörder des ersten Opfers hat die Leiche entsorgt, wobei der Kopf von einer Partei abgetrennt wurde, die in keinem Zusammenhang damit stand und die dann den Versuch unternahm, es selbst einmal mit einer Mord-Enthauptung zu probieren. Dritte Möglichkeit: Der zweite Mord stellt eine simple Nachahmungstat des ersten dar. Vierte Möglichkeit: Die Morde hängen in keinerlei Weise miteinander zusammen, und dass es bei beiden Fällen zu einer Enthauptung gekommen ist, ist bloßer Zufall. Fünfte Möglichkeit –«