»Was zum Teufel!«, hörten sie jemanden brüllen. Bascombe kam aus dem Seiteneingang des Hauses gelaufen. Einen Baseballschläger schwingend, rannte er auf sie zu.
Jacob rutschte das Herz in die Hose, er schrie: »Lauf!«
Ryan ließ den Eierkarton fallen, drehte sich um – und rutschte sofort auf einer spiegelglatten, vereisten Fläche aus.
»Scheiße!« Jacob drehte sich um, packte Ryan am Mantel und riss seinen Bruder hoch. Doch mittlerweile stand Bascombe quasi über ihnen, mit dem Baseballschläger in Schlagstellung.
Sie rannten von der Einfahrt runter auf die Straße, Bascombe hinterher. Zu Jacobs Überraschung kriegte er allerdings keinen Herzinfarkt, und er fiel auch nicht tot um, sondern lief unerwartet schnell, holte sie womöglich sogar ein. Ryan fing an zu wimmern.
Hinter ihnen schrie Bascombe: »Ihr verfluchten Bengel, ich schlag euch die Köpfe ein!«
Jacob flitzte, dicht gefolgt von Ryan, um die Ecke auf die Hillside, vorbei an einigen Geschäften mit heruntergelassenen Rollläden und einem Baseballfeld. Aber der alte Knacker verfolgte sie immer noch, er schrie und hielt dabei den Baseballschläger hoch über den Kopf. Offenbar ging ihm aber langsam die Puste aus, denn er fiel ein wenig zurück. Vor ihnen erblickte Jacob das Gelände des von Maschendrahtzaun umgebenen Gebrauchtwagenhandels. Dort sollten im nächsten Frühjahr Wohnungen gebaut werden. Vor einiger Zeit hatten ein paar Kids ein Loch in den Zaun geschnitten. Er lief auf die Öffnung zu und kroch hindurch, Ryan immer noch dichtauf. Endlich fiel Bascombe zurück, immer noch lauthals Drohungen ausstoßend.
Hinter dem Gebrauchtwagenhandel befand sich ein Gewerbegebiet mit mehreren baufälligen Gebäuden. Jacob erspähte eine Werkstatt in der Nähe, mit einer Tür, an der die Farbe abblätterte, und einem zerborstenen Fenster an der Seite. Inzwischen war Bascombe nicht mehr zu sehen. Vielleicht hatte er das Loch im Zaun übersehen, aber Jacob hatte das Gefühl, dass er immer noch hinter ihnen her war. Sie mussten ein besseres Versteck finden.
Er versuchte, die Tür zu der Autowerkstatt zu öffnen – verriegelt. Vorsichtig schob er den Arm durch das kaputte Fenster, tastete nach dem Türknauf, drehte ihn von innen. Knarrend öffnete sich die Tür.
Er betrat die Werkstatt, Ryan hinter ihm. Behutsam schloss er die Tür und drehte das Riegelschloss.
Schwer atmend standen sie im Dunkeln. Jacob glaubte, ihm würde gleich die Lunge platzen, und versuchte, leise zu sein.
»Ihr Rotzlümmel!«, ertönte in der Ferne Bascombes schrille Stimme. »Euch werd ich’s zeigen!«
Es war dunkel in der Werkstatt, bis auf ein paar Scherben auf dem Boden war sie offenbar leer. Jacob fasste Ryan an der Hand und kroch auf allen vieren los. Sie benötigten ein Versteck, für den Fall, dass der alte Bascombe auf den Gedanken kam, hier nach ihnen zu suchen. Es war irre, aber es schien, als wollte der alte Knabe tatsächlich mit seinem Baseballschläger auf sie eindreschen. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erblickte Jacob im hinteren Teil der Werkstatt einen Laubhaufen – und zwar einen großen.
Er zog Ryan mit sich in die Richtung, wühlte sich in das Laub, legte sich auf die weiche Oberfläche und wischte mit den Händen herum, wodurch er die Blätter über sich und seinen Bruder verteilte.
Eine Minute verstrich. Noch eine. Inzwischen rief Bascombe nicht mehr nach ihnen – alles war still. Allmählich atmete Jacob wieder ruhiger, sein Selbstbewusstsein kehrte zurück. Nach ein paar weiteren Minuten begann er zu kichern. »Der alte Tattergreis, den haben wir abgehängt.«
Ryan schwieg.
»Hast du ihn gesehen? Er hat uns verfolgt, im Pyjama. Vielleicht ist ihm ja der Pimmel abgefroren.«
»Glaubst du, er hat unsere Gesichter erkannt?«, fragte Ryan mit zittriger Stimme.
»Bei den Mützen, Schals, Kapuzen?« Wieder kicherte er. »Die Eier sind bestimmt schon steinhart gefroren.«
Schließlich gestattete sich Ryan ein leises Lachen. »Ihr Rotzlümmel, euch werd ich’s zeigen!«, imitierte er die hohe, pfeifende Stimme des alten Mannes und den starken Queens-Akzent.
Sie lachten, erhoben sich langsam aus dem Laubhaufen, wischten sich die Blätter von den Klamotten. Plötzlich schnüffelte Jacob laut. »Du hast gefurzt!«
»Hab ich nicht!«
»Hast du doch!«
»Hab ich nicht! Wer’s gerochen hat, hat’s verbrochen!«
Jacob stutzte, schnüffelte aber immer noch. »Was riecht denn hier so?«
»Das ist kein Furz. Das ist … das ist krass.«
»Du hast recht. Das sind … ich weiß nicht, vergammelte Abfälle oder so was.«
Angeekelt trat Jacob einen Schritt zurück in das Laub und stolperte dabei über irgendetwas. Er streckte die Hand aus und stützte sich darauf ab, damit er nicht hinfiel, aber da hörte er, dass das Laub, unter dem er sich versteckt hatte, eine Art leises Seufzen von sich gab, und plötzlich war auch der Geruch, der über sie hinwegwehte, hundertmal übler als vorher. Jacob wich bereits taumelnd zurück, als er Ryan sagen hörte: »Guck mal, da ist eine Hand …«
2
Lieutenant Vincent D’Agosta, Commander der Detective Squad, stand im Flutlicht vor der Autowerkstatt in Kew Gardens, Queens, und sah den Kriminaltechnikern bei der Arbeit zu. Er war ziemlich sauer, weil er an seinem freien Tag noch so spät am Abend herausgeklingelt worden war. Der Leichenfund war um 23.38 Uhr gemeldet worden – nur zweiundzwanzig Minuten später wäre Lieutenant Pankhurst zum Tatort gerufen worden.
D’Agosta seufzte. Die Ermittlungen würden knifflig werden: eine junge Frau, enthauptet. In Gedanken entwarf er schon mögliche Schlagzeilen in der Boulevardpresse, in der Art von Leiche ohne Kopf in Oben-ohne-Bar gefunden, die berühmteste Überschrift in der Geschichte der Post.
John Caruso, der Leiter der Kriminaltechnik, tauchte aus dem grellen Licht auf und steckte sein iPad ein.
»Und? Was habt ihr gefunden?«, fragte D’Agosta.
»Dieses verdammte Laub. Ich meine, versuchen Sie mal, in diesem Durcheinander nach Haaren, Fasern, Fingerabdrücken, was auch immer zu suchen. Ist wie die Stecknadel im Heuhaufen.«
»Sie glauben, dass der Täter das gewusst hat?«
»Nee. Es sei denn, er hat früher mal bei der Spurensicherung gearbeitet. Ist bloß Zufall.«
»Kein Kopf?«
»Nein. Die Enthauptung hat aber nicht hier stattgefunden – kein Blut.«
»Todesursache?«
»Einzelner Schuss ins Herz. Großkalibriges Hochgeschwindigkeitsprojektil, ist mitten durchgegangen, von hinten nach vorn. Vielleicht finden wir ein paar Fragmente in der Wunde, aber wir haben keine Kugel gefunden. Und das Ganze ist auch nicht hier passiert. In Anbetracht der Kälte und so weiter würde ich schätzen, die Leiche wurde hier vor drei, vielleicht vier Tagen abgeladen.«
»Sexuelle Gewalt?«
»Bislang keine offensichtlichen Anzeichen. Wir müssen abwarten, bis der Rechtsmediziner die … Sie wissen schon … verschiedenen … untersucht hat.«
»Ja, klar«, sagte D’Agosta schnell. »Keine Papiere, nichts?«
»Null. Keine Dokumente, leere Taschen. Weiß, weiblich, vielleicht eins fünfundsechzig, schwer zu sagen, Anfang zwanzig, straffe Figur, offenkundig trainiert. Hat eine Dolce-und-Gabbana-Jeans angehabt. Und sehen Sie hier diese irren Sneakers, die sie trägt? Ich hab die eben im Netz recherchiert. Louboutin. Fast tausend Dollar.«
D’Agosta stieß einen leisen Pfiff aus. »Tausend-Dollar-Sneakers? Mamma mia.«
»Ja. Reiches weißes Mädchen. Ohne Kopf. Sie wissen doch, was das heißt, nicht wahr, Lieutenant?«
D’Agosta nickte. Die Medienleute würden in Kürze anrücken – und da waren sie auch schon, als hätte er sie per Gedankenübertragung herbeigerufen: Ein Kastenwagen von Fox 5 fuhr vor, dann noch einer, und dann ein Uber-Taxi mit niemand anderem darin als dem guten alten Bryce Harriman, dem Post-Reporter, der aus dem Auto stieg, als wäre er Mr. Pulitzer höchstpersönlich.