Выбрать главу

D’Agosta folgte ihm durch die Empfangshalle in ein warmes, wunderschön möbliertes Zimmer. Dort flackerte ein Kaminfeuer. Dunkelgrüne Wände, Eichentäfelung und schier endlose Bücherborde mit alten Bänden. Pendergast zeigte auf einen Ohrensessel auf der einen Seite des Kamins, er selbst nahm auf der anderen Seite Platz. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Ich nehme einen grünen Tee.«

»Hm, ein Kaffee wäre prima – wenn Sie welchen dahaben. Schwarz, zwei Stück Zucker.«

Proctor, der im Eingang zur Bibliothek stand, ging los. Pendergast lehnte sich im Sessel zurück. »Wie ich höre, haben Sie den Leichnam identifiziert.«

D’Agosta beugte sich im Sessel etwas nach vorn. »Das stimmt.«

»Und?«

»Na ja, zu meiner Überraschung haben wir einen passenden Fingerabdruck gefunden. Er ist fast sofort aufgetaucht – ich nehme an, weil die Frau digital erfasst wurde, als sie sich für das Global Entry System bewarb – Sie wissen schon, das Trusted-Traveler-Programm der Organisation der naturwissenschaftlichen und technischen Studentenschaft. Sie heißt Grace Ozmian, ist zweiundzwanzig Jahre alt, die Tochter von Anton Ozmian, dem Tech-Milliardär.«

»Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.«

»Ozmian hat große Teile der Technologie erfunden, die Verwendung findet, um Musik- und Videomaterial zu streamen. Er ist der Gründer eines Unternehmens namens DigiFlood. Kindheit in ärmlichen Verhältnissen, aber er ist schnell aufgestiegen. Heute ist er steinreich. Jedes Mal, wenn eine Streaming-Software auf ein Gerät geladen wird, verdient seine Firma daran.«

»Und Sie sagen, es handelt sich um seine Tochter?«

»Genau. Ozmian ist Libanese in zweiter Generation und mit einem Stipendium aufs MIT gegangen. Grace wurde in Boston geboren, die Mutter starb bei einem Flugzeugabsturz, als sie fünf war. Sie ist in der Upper East Side aufgewachsen, hat Privatschulen besucht, schlechte Noten, hat nie gejobbt, hat das Studium abgebrochen und mit dem Geld des Vaters ein Jetset-Leben geführt. Hat vor ein paar Jahren auf Ibiza gelebt, dann Mallorca, ist aber vor rund einem Jahr nach New York zurückgekehrt und wohnt seitdem zusammen mit ihrem Vater im Time Warner Center. Ihm gehört da eine Neunzimmerwohnung – richtiger gesagt, drei Wohnungen, die zusammengelegt wurden. Ihr Vater hat die Tochter vor vier Tagen als vermisst gemeldet. Er hat der New Yorker Polizei die Hölle heißgemacht und vermutlich auch dem FBI, hat einen Haufen Beziehungen spielen lassen bei dem Versuch, seine Tochter zu finden.«

»Zweifellos.« Pendergast hob seine Teetasse an den Mund und trank einen Schluck. »Hatte die Tochter mit Drogen zu tun?«

»Möglicherweise. Es nehmen ja so viele junge Frauen – reiche wie arme – Drogen. Keine Akte, ein paarmal hat die Polizei sie in Gewahrsam genommen wegen Drogenkonsums und Erregung öffentlichen Ärgernisses, zuletzt vor einem halben Jahr. Bei einem Bluttest wurde Kokain in ihrem Körper nachgewiesen. Wurde aber kein einziges Mal angeklagt. Wir stellen gerade eine Liste von allen Leuten zusammen, mit denen sie bekannt war. Sie hatte einen ziemlich großen Bekanntenkreis, überwiegend Kinder reicher Eltern aus der Upper East Side und Eurotrash. Sobald der Vater benachrichtigt ist, werden wir ihren ›Freunden‹ gehörig auf den Zahn fühlen. Natürlich werden Sie über alles informiert.«

Proctor brachte die Tasse Kaffee.

»Sie meinen, der Vater weiß noch nicht Bescheid?«, fragte Pendergast.

»Äh, nein … wir kennen die Identität des Mädchens erst seit einer Stunde. Und das ist teilweise auch der Grund, warum ich hier bin.«

Pendergast hob die Brauen, ein Ausdruck des Missfallens trat in seine Gesichtszüge. »Sie erwarten doch wohl nicht, dass ich einen Beileidsbesuch tätige?«

»Es geht nicht um einen Beileidsbesuch. Sie machen so etwas doch nicht zum ersten Mal. Es wäre Teil der Ermittlungen.«

»Ich soll diesem Milliardär die Nachricht überbringen, dass seine Tochter ermordet und enthauptet wurde? Nein, danke.«

»Schauen Sie, das ist nicht freiwillig. Sie müssen da hingehen. Sie sind beim FBI. Wir müssen dem Mann zeigen, dass wir intensiv in dem Fall ermitteln, und das Bureau auch. Wenn Sie nicht dabei sind, glauben Sie mir, wird Ihr Vorgesetzter davon erfahren – und das wollen Sie doch sicherlich nicht.«

»Mit Howard Longstreets Missfallen komme ich schon zurecht. Nur verspüre ich momentan keinerlei Verlangen danach, meine Bibliothek zu verlassen, um mich auf eine Trauerfall-Mission zu begeben.«

»Sie müssen die Reaktion des Vaters mit eigenen Augen sehen.«

»Halten Sie ihn für tatverdächtig?«

»Nein, aber der Mord könnte etwas mit seinen Geschäften zu tun haben. Ich meine, der Typ gilt als Weltklasse-Arschloch. Vielleicht hat er ja die falschen Leute verärgert, und die haben seine Tochter umgebracht, um es ihm heimzuzahlen.«

»Mein lieber Vincent, derlei ist nicht meine Stärke.«

D’Agosta war genervt. Sein Gesicht fühlte sich heiß an. Normalerweise ließ er Pendergast ja seinen Willen, aber diesmal lag er total falsch. Pendergast war doch meistens mühelos imstande, eine Situation richtig einzuschätzen – was war bloß los mit ihm? »Hören Sie, Pendergast, wenn Sie es nicht für die Ermittlungen tun wollen, dann tun Sie’s für mich. Ich bitte Sie als Freund. Ich kann da nicht allein hingehen, ich schaffe das einfach nicht.«

Einen langen Augenblick spürte er Pendergasts Blick auf sich ruhen. Dann aber griff der Agent nach seiner Teetasse, trank aus und stellte sie seufzend auf die Untertasse zurück. »Eine solche Bitte kann man wohl kaum abschlagen.«

»Prima.« D’Agosta stand auf, ohne seinen Kaffee angerührt zu haben. »Aber wir müssen uns beeilen. Diese Nervensäge von einem Reporter, dieser Bryce Harriman, schnüffelt dort herum wie ein Jagdhund. Die Nachricht kann jeden Augenblick an die Öffentlichkeit gelangen. Wir dürfen auf keinen Fall zulassen, dass Ozmian aus der Boulevardpresse vom Tod seiner Tochter erfährt.«

»Nun gut.« Pendergast wandte sich um. Plötzlich stand Proctor wie herbeigezaubert in der Tür zur Bibliothek.

»Proctor?«, sagte Pendergast. »Fahren Sie bitte den Wagen vor.«

4

Der alte Rolls-Royce Silver Wraith mit Proctor am Steuer – der in dem engen, von Fußgängern wimmelnden Labyrinth von Lower Manhattan enorm auffiel – zwängte sich durch einen Verkehrsstau auf der West Street und näherte sich der Firmenzentrale von DigiFlood, die in einem unter der Bezeichnung Silicon Alley bekannten Viertel lag. Der firmeneigene Komplex bestand aus zwei großen Gebäuden, die einen ganzen Straßenblock zwischen West Street, Hubert, North, Moore und Greenwich einnahmen. Bei dem einen handelte es sich um eine große ehemalige Druckerei aus dem 19. Jahrhundert, beim anderen um einen brandneuen Wolkenkratzer mit fünfzig Stockwerken. Aus beiden Gebäuden, dachte D’Agosta, musste man einen Wahnsinnsblick auf den Hudson und in die andere Richtung, die Skyline des südlichen Manhattan, haben.

D’Agosta hatte im Unternehmen angerufen und angekündigt, dass sie Anton Ozmian treffen wollten und dass es dabei um seine Tochter gehe. Und als sie jetzt in die Tiefgarage unter dem DigiFlood-Wolkenkratzer hineinfuhren, zeigte der Parkwächter, der mit Proctor redete, auf eine Parkbucht direkt neben dem mit OZMIAN 1 gekennzeichneten Platz. Noch bevor sie ausgestiegen waren, erschien ein Mann in dunkelgrauem Anzug.

»Meine Herren?« Er trat auf sie zu, schüttelte ihnen jedoch nicht die Hand, gab sich ganz geschäftsmäßig.

Pendergast zückte sein Ausweismäppchen und klappte es auf, D’Agosta tat das Gleiche. Der Mann musterte beide Ausweise, fasste sie aber nicht an.

»Mein Fahrer bleibt im Wagen«, sagte Pendergast.

»Wie Sie wünschen. Hier entlang, meine Herren.«

Sollte sich der Kerl fragen, warum ein Polizist und ein FBI-Agent in einem Rolls vorfuhren, so ließ er sich das jedenfalls nicht anmerken.