Sie betraten hinter ihm einen Privataufzug, der direkt an den Parkplatz angrenzte und den ihr Begleiter mit einem Schlüssel bediente. Mit leisem Zischen sauste der Lift in die Höhe, und binnen einer Minute waren sie im obersten Stockwerk angelangt. Flüsterleise öffnete sich die Tür, und sie betraten Räumlichkeiten, bei denen es sich offensichtlich um die Vorstandsetage handelte. Dominierende Materialien waren, wie D’Agosta sah, Mattglas, fein geschliffener schwarzer Granit und gebürstetes Titan. Der Raum wirkte geradezu Zen-artig in seiner Leere. Der Mann ging schnellen Schrittes voran, und sie folgten ihm durch einen großen Wartebereich, der wie die Brücke eines Raumschiffs gebogen war und zu einer Tür aus Birkenholz führte, die bei ihrem Näherkommen geräuschlos aufglitt. Dahinter befanden sich mehrere Vorzimmer, in denen Männer und Frauen saßen. Ihre Kleidung entsprach, wie D’Agosta vermutete, ganz dem Casual Chic von Silicon Valley: schwarze T-Shirts und Leinensakkos mit Slim-fit-Jeans und diesen spanischen Schuhen, die der letzte Schrei waren – wie hießen die noch gleich? Pikolinos.
Schließlich gelangten sie vor den Eingang zur, wie D’Agosta annahm, eigentlichen Höhle des Unternehmers. Wieder eine Doppelflügeltür aus Birkenholz, wobei diese so groß war, dass in den einen Flügel eine kleinere Tür eingelassen war, für das normale Kommen und Gehen.
»Meine Herren, bitte warten Sie hier einen Augenblick.« Der Mann verließ das Zimmer durch die kleinere Tür und schloss sie hinter sich.
D’Agosta warf Pendergast einen kurzen Blick zu. Durch die Tür erklang eine gedämpfte, in beherrschtem Zorn erhobene Stimme. D’Agosta konnte die einzelnen Worte zwar nicht verstehen, aber was sie bedeuteten, war auch so ziemlich klar – irgendein bedauernswerter Mensch bekam gerade einen gewaltigen Anschiss. Der Ton der Stimme stieg und fiel, als wollte der Sprechende eine Liste von Beschwerden aufzählen. Dann herrschte plötzlich Stille.
Kurz darauf öffnete sich die Tür. Ein Mann erschien – silberne Haare, groß, gutaussehend, makellos gekleidet. Er flennte wie ein Baby, sein Gesicht war nass vor Tränen.
»Und vergessen Sie nicht, ich mache Sie dafür verantwortlich!«, rief ihm eine Stimme aus dem Büro hinterher. »Wir streuen proprietären Quellcode übers gesamte Internet, und zwar dank dieses gottverdammten Insider-Leaks. Entweder Sie finden das verantwortliche Schwein, oder ich schmeiße Sie raus!«
Der Mann lief blindlings weiter und entschwand in den Wartebereich.
Wieder sah D’Agosta Pendergast kurz an, um festzustellen, wie der reagierte, aber es war nichts zu erkennen; seine Miene war so ausdruckslos wie immer. D’Agosta war froh darüber, dass Pendergast zu alter Form zurückgefunden hatte, wenigstens von außen betrachtet – das wie gemeißelte Gesicht so blass, als wäre es aus Marmor gehauen, die Augen besonders hell in dem kühlen natürlichen Licht, das den Raum erhellte. Allerdings war er dürr wie eine verdammte Vogelscheuche.
Der Anblick eines Mannes, dem man derart übel mitgespielt hatte, machte D’Agosta ein wenig nervös, sodass er im Geiste rasch seine äußere Erscheinung musterte. Seit der Heirat sorgte seine Frau Laura dafür, dass er doppelreihige Anzüge trug, und zwar nur von den besseren italienischen Herrenausstattern – Brioni, Ravazollo, Zegna –, dazu Hemden aus hundert Prozent Baumwolle von Brooks Brothers. Als »Uniform« konnte nur der einzelne Streifen am Revers gelten, der ihn als Lieutenant auswies. Laura hatte, das musste gesagt werden, wirklich erreicht, dass er sich zusammenriss, was seine Kleidung betraf, und seine braunen Polyester-Anzüge samt und sonders ausgemustert. Und D’Agosta hatte festgestellt, dass er sich in Millionärsklamotten sicher fühlte, auch wenn seine Kollegen witzelten, dass er im Doppelreiher ein bisschen wie ein Mafioso aussah. Was ihm im Grunde genommen gefiel. Er musste bloß aufpassen, dass er nicht seinen Chef, Captain Glen Singleton, übertrumpfte, der, wie das gesamte NYPD wusste, großen Wert auf ausgesucht feine Kleidung legte.
Wieder erschien ihr Begleiter. »Mr. Ozmian wird Sie jetzt empfangen.«
Sie traten nach ihm durch die Tür in ein großes, aber nicht riesiges Eckbüro, das Blicke nach Süden und Westen bot. Durch eines der Fenster sah man die kühlen, eleganten Seitenfassaden des Freedom Tower, scheinbar so nahe, dass D’Agosta glaubte, sie fast berühren zu können. Ein Mann trat hinter seinem großen Schreibtisch aus schwarzem Granit hervor, der aussah wie die Steinplatte eines Grabmals. Ozmian, schlank, hochgewachsen und asketisch wirkend, war sehr gutaussehend. Er hatte schwarzes, an den Schläfen ergrautes Haar, einen kurz geschnittenen, grau melierten Bart und trug eine Metallbrille. Bekleidet war er mit einem weißen Strick-Rollkragenpullover aus dicker Kaschmirwolle, schwarzen Jeans und schwarzen Schuhen. Der monochromatische Effekt war extrem beeindruckend. Der Mann sah zwar nicht gerade aus wie jemand, der soeben einen Mitarbeiter abgekanzelt hatte, doch freundlich wirkte er auch nicht gerade.
»Das wurde aber auch Zeit«, sagte er und deutete zu einem Sitzbereich seitlich des Schreibtisches, was aber nicht als freundliche Aufforderung gemeint war, sondern als Befehl. »Meine Tochter ist seit vier Tagen verschwunden. Und endlich beehren mich zwei Behördenvertreter. Nehmen Sie Platz und setzen Sie mich über den Stand der Ermittlungen in Kenntnis.«
D’Agosta warf Pendergast einen Blick zu und sah, dass er gar nicht daran dachte, Platz zu nehmen.
»Mr. Ozmian«, sagte Pendergast, »wann haben Sie Ihre Tochter das letzte Mal gesehen?«
»Ich werde Ihnen das nicht noch einmal alles erzählen. Ich habe Ihnen die Geschichte doch schon ein halbes Dutzend Mal am Telefon –«
»Nur zwei Fragen, bitte.«
»Beim Abendessen. Vor vier Tagen. Hinterher ist sie mit Freunden ausgegangen. Und nicht wieder nach Hause gekommen.«
»Und wann genau haben Sie die Polizei gerufen?«
Ozmian seufzte. »Am nächsten Tag, so gegen zehn.«
»Waren Sie es nicht gewohnt, dass sie spät nach Hause kommt?«
»Nicht so spät. Was genau …«
Ozmians Miene wandelte sich. Er musste, dachte D’Agosta, irgendetwas in ihren Gesichtern gelesen haben. Der Typ war ziemlich helle. »Was ist denn? Haben Sie sie gefunden?«
D’Agosta atmete tief durch und wollte gerade etwas erwidern, als ihm Pendergast zu seinem großen Erstaunen zuvorkam.
»Mr. Ozmian«, sagte Pendergast in seinem ruhigsten, sanftesten Tonfall, »wir haben eine schlechte Nachricht: Ihre Tochter ist tot.«
Ozmian wirkte, als wäre er gerade eben angeschossen worden. Er taumelte etwas und musste sich an einer Stuhllehne festhalten, um nicht zu stürzen. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, die Lippen bewegten sich, aber er brachte nur ein unverständliches Flüstern zustande. Er sah aus wie ein lebender Toter.
Als er abermals wankte, trat D’Agosta einen Schritt auf ihn zu und packte ihn am Arm und an der Schulter. »Sir, bitte setzen Sie sich.«
Ozmian nickte stumm und ließ sich von D’Agosta zu einem Stuhl führen. Der Mann fühlte sich leicht wie eine Feder an.
Fast unhörbar formten Ozmians Lippen das Wort »Wie?«.
»Sie ist ermordet worden«, sagte Pendergast, dessen Stimme immer noch ganz ruhig klang. »Ihr Leichnam wurde gestern Abend in einer leer stehenden Autowerkstatt in Queens aufgefunden. Wir konnten heute Morgen eine Identifizierung vornehmen. Wir sind gekommen, um Sie offiziell darüber zu informieren, ehe die Zeitungen die Geschichte bringen – was sie jeden Augenblick tun werden.« Obgleich Pendergast seine Sätze völlig emotionslos vorbrachte, gelang es ihm doch, tiefe Anteilnahme und Betrübnis zum Ausdruck zu bringen.
Wieder bewegten sich Ozmians Lippen. Mit erstickter Stimme fragte er: »Ermordet?«
»Ja.«
»Wie?«
»Man hat ihr ins Herz geschossen. Sie war auf der Stelle tot.«
»Geschossen? Erschossen?« Langsam kehrte die Farbe in Ozmians Gesicht zurück.
»In einigen Tagen wissen wir mehr. Ich fürchte, Sie haben die Aufgabe, die Leiche zu identifizieren. Wir begleiten Sie natürlich gerne dorthin.«