In Ozmians Zügen spiegelten sich Verwirrung und Entsetzen. »Aber … ermordet? Warum?«
»Die Ermittlungen sind erst wenige Stunden alt. Wie es aussieht, wurde Ihre Tochter vor mehreren Tagen getötet und ihr Leichnam in der Werkstatt zurückgelassen.«
Jetzt packte Ozmian die Stuhllehnen und erhob sich erneut. Seine Gesichtsfarbe war von Weiß zu Rosa gewechselt und wandelte sich nun in ein Feuerrot. Einen Augenblick lang stand er unschlüssig da und blickte von Pendergast zu D’Agosta und wieder zu Pendergast. D’Agosta merkte, dass der Mann seine Fassung wiedergewann. Wahrscheinlich würde er gleich in die Luft gehen.
»Ihr … Mistkerle.«
Stille.
»Wo war das FBI eigentlich in den vergangenen vier Tagen? Das war Ihr Fehler – Ihr Fehler!« Ozmian hatte den Satz im Flüsterton begonnen, zum Ende hin brüllte er die Worte. In seinen Mundwinkeln hatten sich winzige Speichelbläschen gebildet.
Pendergast unterbrach ihn ganz ruhig. »Mr. Ozmian, Ihre Tochter war vermutlich bereits tot, als Sie sie als vermisst gemeldet haben. Aber ich kann Ihnen versichern, dass alles getan wurde, um sie zu finden. Alles.«
»Ach, das sagt Ihr stümperhaften Schwachköpfe, Ihr lügnerischen Drecksäcke doch immer –« Er stockte. Es hörte sich fast so an, als hätte er einen allzu großen Bissen verschluckt. Er hustete und prustete, wurde fast violett im Gesicht. Vor Wut brüllend, trat er einen Schritt vor, griff sich von einem Glastisch in der Nähe eine schwere Skulptur, hob sie hoch und schmiss sie auf den Boden. Wankend ging er zu einem Whiteboard und kippte es um, stieß mit dem Fuß eine Lampe um, schnappte sich einen auf dem Schreibtisch stehenden Pokal aus Keramik und zerschmetterte diesen auf dem Glastisch; beides zersprang mit lautem Krachen. Ein wahrer Hagelschauer aus Glassplittern und Tonscherben ging auf den Granitboden nieder.
Woraufhin Pendergasts und D’Agostas Begleiter im dunklen Anzug ins Zimmer gelaufen kam. »Was geht hier vor?«, fragte er hektisch, als er völlig verdattert die Verwüstungen überall in dem Büro und seinen Chef derart in Rage erblickte. Dann schaute er entgeistert zu Ozmian, dann zu Pendergast und D’Agosta.
Sein Eintreten hatte irgendetwas in Ozmian ausgelöst, denn er hielt daraufhin in seinem Wutanfall inne und blieb schwer atmend mitten im Zimmer stehen. Eine kleine herumfliegende Glasscherbe hatte seine Stirn geritzt. Ein Blutstropfen trat aus der Wunde.
»Mr. Ozmian –«
Ozmian drehte sich zu dem Mann um und sagte in schroffem, aber ruhigem Tonfalclass="underline" »Raus! Schließen Sie die Tür ab. Holen Sie Isabel. Niemand kommt hier rein außer ihr.«
Plötzlich brach Ozmian in Tränen aus, wobei seine hysterischen Schluchzer in Schüben kamen. Schließlich trat D’Agosta nach kurzem Zögern einen Schritt vor, packte Ozmian am Arm und half ihm abermals, sich auf den Stuhl zu setzen, wo er zusammensank, die Arme um den Oberkörper legte und vor und zurück schaukelte, schluchzte und nach Luft rang.
Ein, zwei Minuten später löste sich Ozmian allmählich aus seiner Verzweiflung. Er zog ein Taschentuch aus der Hosentasche, wischte sich sorgfältig das Gesicht trocken, sammelte sich einen langen Augenblick und saß schweigend da.
Mit tonloser Stimme sagte er schließlich: »Erzählen Sie mir alles.«
D’Agosta räusperte sich und übernahm das Gespräch. Er erklärte, dass zwei Jungen den Leichnam unter Laub versteckt in einer Autowerkstatt gefunden hätten und sich die Mordkommission des Falls umgehend angenommen habe. Er habe ein komplettes Spurensicherungsteam für die Ermittlungen bereitgestellt, unter Leitung des Besten seines Fachs, und fügte hinzu, dass inzwischen mehr als vierzig Detectives ermittelten. Die gesamte Mordkommission räume dem Fall höchste Priorität ein und arbeite mit dem FBI eng zusammen. D’Agosta trug so dick auf, wie er sich nur traute. Ozmian hörte mit gesenktem Kopf zu.
»Haben Sie schon irgendeine Idee, wer es getan haben könnte?«, fragte er, als D’Agosta zu Ende berichtet hatte.
»Noch nicht, aber das ist nur eine Frage der Zeit. Wir werden die Person finden, die das getan hat, darauf gebe ich Ihnen mein Wort.« Er zögerte und fragte sich, wie er Ozmian sagen sollte, dass seine Tochter enthauptet worden war. Irgendwie brachte er es nicht fertig, dieses Detail in seine Erzählung einzubauen, aber vor dem Ende dieses Treffens musste er es zur Sprache bringen. Und was am schrecklichsten von allem war: Man würde Ozmian auffordern, eine Leiche ohne Kopf zu identifizieren – den Leichnam seiner Tochter. Dass es sich dabei um die Tochter handelte, wussten sie aufgrund der Fingerabdrücke, aber die Identifizierung war gesetzlich vorgeschrieben, auch wenn sie in diesem Fall unnötig und grausam war.
»Nachdem Sie den Leichnam identifiziert haben«, fuhr D’Agosta fort, »möchten wir Sie, falls Sie sich dazu imstande sehen, befragen – je früher, desto besser. Wir brauchen Namen und Kontaktinformationen der Freunde und Bekannten Ihrer Tochter. Wir werden Sie bitten, uns von möglichen Schwierigkeiten im Leben Ihrer Tochter sowie in Ihrem beruflichen und privaten Umfeld zu erzählen – alles, was möglicherweise mit dem Mord in Zusammenhang steht. So unangenehm diese Fragen auch sein werden, ich bin mir sicher, Sie verstehen, warum wir sie stellen müssen. Je mehr wir wissen, desto schneller können wir die verantwortliche Person oder die verantwortlichen Personen fassen. Selbstverständlich dürfen Sie einen Anwalt hinzuziehen, wenn Sie möchten, aber es ist nicht erforderlich.«
Ozmian zögerte. »Sofort?«
»Wenn Sie nichts dagegen haben, würden wir es vorziehen, Sie im Polizeipräsidium zu befragen. Nachdem Sie … die Identifizierung vorgenommen haben. Vielleicht heute Nachmittag – aber nur, wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen.«
»Schauen Sie, ich … bin bereit, Ihnen zu helfen. Ermordet … O Gott, hilf mir …«
»Da wäre noch eine Sache«, sagte Pendergast mit leiser Stimme, was sogleich bewirkte, dass Ozmian innehielt. Er nahm die Hände vom Gesicht und sah Pendergast ängstlich an.
»Ja, was denn?«
»Sie sollten darauf gefasst sein, Ihre Tochter anhand körperlicher Merkmale zu identifizieren – Hautmale, Tätowierungen, OP-Narben. Oder anhand ihrer Kleidung und persönlicher Dinge.«
Ozmian blinzelte. »Ich verstehe nicht ganz.«
»Man hat Ihre Tochter enthauptet vorgefunden. Den Kopf haben wir noch nicht gefunden.«
Einen langen Augenblick sah Ozmian Pendergast fassungslos an. Dann schwenkte sein Blick zur Seite, suchte D’Agosta.
»Warum?«, flüsterte er.
»Eine Frage, die wir sehr gern beantwortet hätten«, sagte Pendergast.
Ozmian blieb zusammengesunken auf dem Stuhl sitzen. Schließlich sagte er: »Geben Sie meinem Assistenten auf dem Weg nach draußen die Adresse des Leichenschauhauses und den Ort, an dem Sie mich befragen wollen. Ich werde um vierzehn Uhr dort sein.«
»Wie Sie wünschen«, sagte Pendergast.
»Und jetzt lassen Sie mich bitte allein.«
5
Marc Cantucci riss es aus dem Schlaf, gerade als das Flugzeug in seinem Traum kurz davor war, ins Meer zu stürzen. Er lag im Dunkeln, und sein rasendes Herz begann langsamer zu schlagen, während die vertraute und behagliche Umgebung seines Schlafzimmers rings um ihn herum Gestalt annahm. Er hatte diesen immer gleichen Traum gründlich satt, in dem er in einem von Terroristen entführten Flugzeug saß. Diese waren ins Cockpit eingedrungen und hatten die Tür abgeschlossen. Augenblicke später kippte die Maschine ruckartig nach vorn und ging bei voller Schubkraft in einen übelkeitserregenden Sturzflug auf die ferne, stürmische See über, während er durchs Fenster beobachtete, wie das schwarze Wasser immer näher auf ihn zuraste, und wusste, dass das Ende unvermeidlich war.
Er lag im Bett und überlegte, ob er das Licht einschalten und ein bisschen lesen oder lieber versuchen sollte, wieder einzuschlafen. Wie spät war es eigentlich? Im Zimmer war es sehr dunkel, und die Rollläden aus Stahl vor den Fenstern waren heruntergelassen, sodass er unmöglich wissen konnte, wie spät es war. Er griff nach seinem Handy, das er stets auf dem Nachttisch liegen hatte. Wo steckte es bloß? Er konnte keinesfalls vergessen haben, es dort abzulegen. Seine Gewohnheiten waren so verlässlich wie ein Schweizer Uhrwerk. Aber vielleicht hatte er das Handy doch verlegt, denn es war tatsächlich nicht zur Hand.