Jetzt war er zu verärgert, um wieder einschlafen zu können, setzte sich auf, schaltete die Nachttischlampe ein und suchte nach dem Handy. Er warf die Bettdecke beiseite, stieg aus dem Bett und ging schließlich zum stummen Diener, auf den er seine Hose und das Sakko gehängt hatte. Eine rasche Durchsuchung ergab, dass das Handy sich auch nicht in den Taschen befand. Das war allmählich mehr als ärgerlich.
Er besaß keinen Wecker, aber die Alarmanlage war mit einer Uhr mit LCD-Anzeige ausgestattet, deshalb ging er dorthin und schob die Abdeckung zur Seite. Und da erlebte er eine höchst unliebsame Überraschung: Die Alarmeinheit war dunkel, der LCD-Monitor schwarz, das alarmaktivierte Lämpchen aus. Und das, obwohl der Strom im Haus noch an war und die Videoüberwachungsanlage neben der Alarmeinheit nach wie vor funktionierte. Sehr seltsam.
Zum ersten Mal verspürte Cantucci ein wenig Angst. Die Alarmanlage war das Beste und Neueste, was es zu kaufen gab. Sie war nicht nur fest ins Haus installiert, sondern verfügte darüber hinaus über eine eigene Stromversorgung und nicht weniger als zwei Back-ups für den Fall eines Stromausfalls oder technischer Probleme. Hinzu kamen Festnetz, Handy und Satellitenverbindungen mit der Zentrale der Sicherheitsfirma. Aber es war unbestreitbar – die Alarmanlage funktionierte nicht.
Cantucci, der ehemalige Generalstaatsanwalt des Bundesstaates New Jersey, der die kriminelle Familie der Otrantos zur Strecke gebracht hatte, ehe er selbst als Mafiaanwalt die rivalisierenden Bonifacci vertreten und mehr Racheblutschwüre anwaltlich betreut hatte, als er zählen konnte, machte sich natürlich Sorgen um seine Sicherheit.
Der Bildschirm der Überwachungsanlage funktionierte einwandfrei, er zeigte wie immer in einer automatischen Endlosschleife die Bilder sämtlicher Kameras im Gebäude. Es gab derer fünfundzwanzig, fünf auf jedem Stockwerk in dem Brownstone-Haus in der East 66. Street, in dem er allein wohnte. Er hatte zwar einen Leibwächter, der tagsüber mit ihm im Haus wohnte, aber das Haus verließ, sobald sich die stählernen Rollläden allabendlich um 19 Uhr automatisch senkten, wodurch das Haus in eine uneinnehmbare Miniaturfestung verwandelt wurde.
Und während er den Bildern zuschaute, die die Überwachungskameras aus jedem Stockwerk zeigten, erblickte er mit einem Mal etwas Bizarres. Er drückte eine Taste, um den Durchlauf zu stoppen, und starrte erschrocken auf das Bild. Die betreffende Kamera deckte den Eingangsflur des Hauses ab – und zeigte einen Eindringling. Einen Mann im schwarzen Turnanzug, mit einer schwarzen Gesichtsmaske. Er hielt einen Bogen aus verstärktem Karbon und vier Pfeile in den Händen. Ein fünfter Pfeil war in den Bogen gespannt, den er so vor sich hertrug, als wollte er den Pfeil im nächsten Augenblick abschießen. Der Schweinehund hielt sich offenbar für Batman und Robin Hood in einem.
Das war scheißverrückt. Wie war der Kerl an den stählernen Rollläden vorbeigekommen? Und wie war er ins Haus gelangt, ohne einen Alarm auszulösen?
Cantucci drückte den Panik-Button, der aber natürlich nicht funktionierte. Und sein Handy war auch weg – ein Zufall? Er griff nach einem Festnetztelefon in der Nähe und hielt den Hörer ans Ohr. Tot.
Während der Mann aus dem Blickfeld der Überwachungskamera verschwand, drückte Cantucci die Taste für die nächste Kamera. Ah, wenigstens die Videoüberwachungsanlage funktionierte.
Jetzt, wo er darüber nachdachte, fragte er sich, warum der Mann nicht auch diese deaktiviert hatte.
Die Gestalt ging Richtung Aufzug. Cantucci sah, wie sie davor stehen blieb, eine ihrer schwarz behandschuhten Hände ausstreckte und eine Taste drückte. Er hörte das Brummen der Mechanik, während der Lift aus seiner Position in der vierten Etage, wo sich Cantuccis Schlafzimmer befand, ins Erdgeschoss hinabfuhr.
Cantucci meisterte seine Furcht sofort. Sechsmal hatte man bereits versucht, ihn umzubringen; alle Versuche waren fehlgeschlagen. Dieser Mordversuch war der bislang irrste, aber auch der würde scheitern. Der Strom war noch eingeschaltet. Mit einem Knopfdruck könnte er den Aufzug stoppen, sodass der Mann in der Falle saß – aber nein. Nein.
Rasch streifte sich Cantucci einen Bademantel über, zog die Schublade des Nachttisches auf und holte eine Beretta M9 sowie ein zusätzliches Fünfzehn-Schuss-Magazin daraus hervor, das er in die eine Tasche seines Bademantels steckte. In der Pistole befand sich zwar bereits ein volles Magazin, mit einem Projektil in der Kammer – so bewahrte er die Waffe immer auf –, aber er checkte das trotzdem. Alles gut.
Leise, aber schnell trat er aus dem Schlafzimmer in den davor befindlichen schmalen Flur und stellte sich vor dem Aufzug auf. Jetzt fuhr dieser wieder herauf. Cantucci hörte das Brummen der Maschinenanlage, während die Zahlen aufleuchteten und anzeigten, auf welcher Etage sich der Lift befand: drei … vier … fünf.
Cantucci wartete in Feuer-frei-Position, bis er hörte, dass der Aufzug zum Stehen kam. Und dann feuerte er, bevor die Tür sich öffnen konnte, durch diese hindurch, wobei die großen Neun-Millimeter-Projektile den dünnen Stahl derart durchschlugen, dass noch jede Menge Zerstörungskraft auf der anderen Seite übrig blieb. Der Lärm war ohrenbetäubend in dem beengten Raum. Cantucci zählte die Schüsse, schnell, aber präzise – ein, zwei, drei, vier, fünf, sechs –, wobei er kreuz und quer und nach unten zielte, sodass er die Person, die sich im Aufzug befand, mit hundertprozentiger Sicherheit traf. Außerdem hatte er so noch jede Menge Munition übrig, um das Ganze zu Ende zu bringen, sobald die Tür aufging.
Die Tür glitt auf. Zu Cantuccis großem Schreck war der Aufzug leer. Er ging hinein und gab zwei Schüsse nach oben durch die Decke ab, um den Kerl, der sich möglicherweise da oben versteckte, zu erwischen, dann drückte er die STOPP-Taste, wodurch der Aufzug auf dieser Etage feststeckte und nicht mehr benutzt werden konnte.
Verdammte Scheiße. Es gab noch eine andere Möglichkeit, wie der Killer bis hinauf in seine Etage gelangen konnte: über die Treppe. Der Mann war mit Pfeil und Bogen ausgerüstet, Cantucci andererseits besaß eine Handfeuerwaffe – und konnte hervorragend damit umgehen. Schnell fasste er einen Entschluss: Warte nicht, geh zum Angriff über. Die Treppe war schmal, auf jedem Stockwerk befand sich ein Treppenabsatz – ein ziemlich schlechtes Umfeld, um einen Pfeil abzuschießen, aber ideal für den Einsatz einer Handfeuerwaffe auf kurze Distanz.
Natürlich konnte es sein, dass auch der Eindringling eine Handfeuerwaffe besaß, aber wie es aussah, wollte er unbedingt seinen Bogen zum Einsatz bringen. Wie auch immer, Cantucci wollte keinerlei Risiko eingehen.
Die Waffe im Anschlag, rannte er barfüßig die Treppe hinunter, schussbereit. Als er schließlich bis in den ersten Stock hinuntergelaufen war, wurde ihm klar, dass sich der Mann nicht im Treppenhaus befand. Er musste raufgefahren und dann auf einer der unteren Etagen ausgestiegen sein. Aber welcher? Verdammt, wo steckte der Kerl?
Cantucci verließ das Treppenhaus im ersten Stock und betrat, die Ecken absichernd, den Flur. Keiner da. Das eine Ende des Flurs führte durch eine offene Tür ins Wohnzimmer, das andere zu einer geschlossenen Badezimmertür.
Er warf einen kurzen Blick auf den Überwachungsmonitor im Flur und ging die Kameras im schnellen Suchlauf durch. Da war der Kerl! Im zweiten Stock, einen über ihm, er schlich über den Flur in Richtung Musikzimmer. Was machte er denn da? Cantucci hatte eigentlich geglaubt, es mit einem Verrückten zu tun zu haben, nur: Der Eindringling bewegte sich sehr absichtsvoll, als ob er einen Plan hätte. Aber was für einen? Wollte er die Strad klauen?
Verdammt, das war’s. Das musste der Grund sein.