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Sein wertvollster Besitz: die L’Amoroso-Stradivari-Geige aus dem Jahr 1696, einst im Besitz des Herzogs von Wellington. Dieses Musikinstrument und sein eigenes Überleben, das waren die beiden Gründe, warum Cantucci in seinem Brownstone ein derart ausgeklügeltes Sicherheitssystem hatte installieren lassen.

Er sah der Gestalt dabei zu, wie sie das Musikzimmer betrat und die Tür hinter sich schloss. Er drückte den Knopf für die Kamera in dem Zimmer und beobachtete, wie die Gestalt zum Tresor ging, in dem die Stradivari lag. Wie wollte er den denn aufbekommen? Das verdammte Ding war angeblich nicht zu knacken. Andererseits hatte der Mistkerl bereits eine hochmoderne Alarmanlage ausgeschaltet. Cantucci hütete sich, irgendwelche Mutmaßungen anzustellen, war auf alles gefasst. Offenkundig hatte der Eindringling die Schüsse gehört. Er musste wissen, dass Cantucci bewaffnet war, und nach ihm suchen. Aber was dachte er denn da? Das ergab doch alles null Sinn. Cantucci sah, wie der Typ vor dem Tresor stehen blieb, die Hand ausstreckte und auf der kleinen Tastatur irgendwelche Zahlen drückte. Die falschen Zahlen, ganz offensichtlich. Jetzt zog er eine kleine metallene Dose aus der Hosentasche – irgendein elektronisches Gerät – und befestigte sie an der Vorderseite des Tresors. Dann legte er Pfeil und Bogen auf den Boden.

Das war seine Chance. Cantucci wusste, wo sich der Mann befand und wo er zumindest in den kommenden Minuten sein würde, außerdem war ihm bekannt, dass der Kerl Pfeil und Bogen abgelegt hatte. Er würde sich mit dem kleinen metallenen Gerät und dem Tresor beschäftigen.

Leise stieg Cantucci die Treppe zum zweiten Stock hinauf, spähte um die Ecke und sah, dass die Tür zum Musikzimmer immer noch geschlossen war, der Eindringling also darin. Dann schlich er barfüßig über den mit Teppichboden ausgelegten Flur und blieb vor der geschlossenen Tür stehen. Er hätte die Tür aufstoßen und den Kerl abknallen können, lange bevor dieser seinen lachhaften Bogen aufheben und damit einen Pfeil auf ihn abschießen konnte.

Langsam und zielstrebig packte er mit der Linken den Türknauf, stieß die Tür auf und stürmte, die Waffe gezückt und auf den Tresor gerichtet, ins Zimmer.

Keiner da. Das Zimmer war leer.

Cantucci erschrak. Er erkannte sofort, dass er in eine Falle getappt war. Blitzartig drehte er sich um und schoss wie ein Irrer in den hinter ihm befindlichen Raum, noch während der Pfeil durch die Luft zischte, in seine Brust eindrang und ihn gegen die Wand schleuderte. Ein zweiter und dritter Pfeil, in schneller Folge abgeschossen, nagelten seinen Körper förmlich an der Wand fest – drei Pfeile, ein Dreiecksmuster bildend und das Herz durchstoßend.

Der Eindringling, der in der offenen Tür zum Zimmer auf der anderen Flurseite gestanden hatte, trat einen Schritt vor und blieb einen halben Meter vor dem Opfer stehen, das von den drei Pfeilen in der Senkrechten gehalten wurde. Der Kopf war nach vorn gesackt, die Arme hingen schlaff herunter. Der Mörder streckte die Hand aus und knipste das Licht im Flur an, stellte den Bogen an die Wand und musterte das Opfer langsam und mit Bedacht von oben bis unten. Dann packte er den baumelnden Kopf mit beiden Händen, hob ihn an und schaute in die starrenden, aber blicklosen Augen. Mit dem Daumen hob er die Oberlippe des Opfers an, drehte ein wenig den Kopf, untersuchte kurz die Zähne: weiß, gerade und ohne Plomben. Der Haarschnitt war teuer, die Gesichtshaut glatt und straff. Für einen Fünfundsechzigjährigen hatte sich Cantucci recht gut gehalten.

Der Eindringling ließ den Kopf los, sodass dieser wieder nach vorn sackte. Er war außerordentlich zufrieden.

6

Um 16 Uhr am folgenden Nachmittag saß Lieutenant Vincent D’Agosta im Videoraum B205 im Präsidium der New Yorker Polizei, nippte an einem Becher verbrannten, schlammigen, eiskalten Kaffees und sah sich eine verschwommene Aufzeichnung an, die eine Überwachungskamera aufgenommen hatte, die das Gewerbegebiet in Queens zeigte, in dem die Leiche gefunden worden war. Es war die letzte der drei lausigen Aufzeichnungen der Überwachungskameras, die er sich seit zwei Stunden anschaute, ohne Ergebnis. Er hätte einen Untergebenen damit beauftragen können, aber aus irgendeinem Grund hasste er es, seinen Leuten Pfadfinderaufgaben aufs Auge zu drücken.

Er hörte ein Klopfen an der offenen Tür. Als er sich umdrehte, erblickte er seinen hochgewachsenen, athletischen Vorgesetzten Captain Singleton. Singleton trug einen schmal geschnittenen blauen Anzug; mit seinen großen, abstehenden Ohren stand er als Silhouette im trüben Flurlicht. Er hielt zwei Dosen Bier in den Händen.

»Vinnie, wen versuchen Sie da eigentlich zu beeindrucken?«, fragte er und betrat das Zimmer.

D’Agosta stoppte das Video, setzte sich zurück und rieb sich mit der Hand übers Gesicht.

Singleton nahm auf einem Stuhl in der Nähe Platz und stellte die Bierdosen vor D’Agosta ab. »Der Kaffee ist kriminell. Trinken Sie das hier stattdessen.«

D’Agosta nahm die eiskalte Dose in die Hand, riss die Lasche ab, was ein hübsches Zischen verursachte, und hob sie an. »Haben Sie vielen Dank, Captain.« Dankbar nahm er einen langen Schluck.

Singleton setzte sich und öffnete seine Bierdose. »Also, was haben Sie gefunden?«

»Was die Sicherheitsvideos angeht, nichts. Es gibt da einen größeren toten Winkel zwischen den drei Kameras, und ich bin mir ziemlich sicher, dass sich die Tat dort abgespielt hat.«

»Gibt es Bildmaterial aus dem Viertel?«

»Nicht viel. Ist überwiegend Wohngebiet – das nächstgelegene Geschäft befindet sich einen Häuserblock entfernt.«

Singleton nickte. »Irgendwas, das diesen Mord mit dem von gestern Nacht in Verbindung bringt? An diesem Mafiaanwalt, Cantucci?«

»Nur die Enthauptung, sonst nichts. Der Modus Operandi ist unterschiedlich. Unterschiedliche Waffen, unterschiedlicher Modus, wie der Täter sich Zutritt zum Tatort verschafft und diesen wieder verlassen hat. Keinerlei Verbindung zwischen den Opfern. Und im Fall Ozmian wurde der Kopf vierundzwanzig Stunden nachdem das Opfer getötet wurde, mitgenommen, wohingegen er bei Cantucci unmittelbar nachdem das Opfer verstarb, abgetrennt wurde.«

»Also glauben Sie, dass die beiden Morde nicht zusammenhängen?«

»Vermutlich nicht, aber zwei Enthauptungen so kurz hintereinander, das ist schon ein seltsamer Zufall. Ich schließe nichts aus.«

»Was ist mit den Aufzeichnungen der Überwachungskameras in Cantuccis Haus?«

»Nichts. Die Aufnahmen waren nicht nur gelöscht – die Festplatten wurden mitgenommen. Die Kameras außerhalb des Hauses und an beiden Ecken der Third Avenue wurden vorher deaktiviert. Der Typ, der Cantucci ermordet hat, war ein Profi.«

»Ein Profi, der Pfeil und Bogen benutzt.«

»Ja, genau. Könnte sich um einen Mafiamord handeln, der irgendeine Art Botschaft senden soll. Dieser Cantucci war ein echter Dreckskerl. Ein Mann, der als Staatsanwalt erst eine Familie zur Strecke gebracht und anschließend für eine rivalisierende Familie gearbeitet hat. Er ist dreckiger als die Mafiosi, die er verteidigt hat, doppelt so reich und dreimal so clever. Er hatte mehr als genug Feinde. Wir arbeiten daran.«

»Und diese Ozmian?«

»Ein wildes Mädchen. Wir haben ihr Zimmer in der Wohnung ihres Vaters von der Spurensicherung untersuchen lassen, nur eine Vorsichtsmaßnahme – hat allerdings nichts Nützliches erbracht. Außerdem sehen wir uns ihre lebenslustigen Freunde an, haben aber bisher keinerlei Spuren gefunden. Wir ermitteln noch.«

Singleton brummelte irgendetwas Unverständliches.

»Die Autopsie hat bestätigt, dass man ihr von hinten durchs Herz geschossen hat, sie so lange an einem unbekannten Ort aufbewahrt hat, bis sie ausblutete, und anschließend in die Werkstatt brachte, von wo der Kopf ungefähr vierundzwanzig Stunden später entfernt wurde. Wir haben jede Menge Haare, Fasern und Fingerabdrücke gefunden, die wir gründlich untersuchen, aber ich habe das Gefühl, dass uns nichts davon weiterhelfen wird.«

»Und der Vater?«

»Superintelligent. Rachsüchtig. Absolutes Arschloch. Ist wahnsinnig jähzornig, schreit und brüllt und schmeißt mit Sachen um sich, und dann wird er plötzlich ganz ruhig – beängstigend.« Nachdem Ozmian am gestrigen Nachmittag die Leiche der Tochter identifiziert hatte – anhand eines Leberflecks am linken Arm –, war er so still, dass es D’Agosta kalt den Rücken herunterlief. »Es würde mich nicht wundern, wenn er dort draußen seine Leute hat, die heimlich nach dem Mörder suchen. Ich hoffe sehr, dass wir den Kerl vorher schnappen. Wenn Ozmians Leute ihn finden, könnte der Täter, fürchte ich, verschwinden, und wir können den Fall niemals aufklären.«