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»Sei einsichtig«, empfahl Elmer. »Vielleicht müssen wir sehr schnell von hier fort. Möglicherweise lauern sie uns auf.«

Cynthia ging zur Tür und schaute hinaus. »Niemand in Sicht«, sagte sie.

»Wie kommen wir am schnellsten aus dem Friedhof?« fragte Elmer.

»Auf der Straße nach Westen«, erklärte Cynthia, »am Verwaltungsgebäude vorbei. Nach ungefähr fünfundzwanzig Meilen endet der Friedhof.«

Elmer schnallte die letzten Gepäckstücke auf Broncos Rücken; dann warf er einen abschließenden Blick in die Runde. »Ich glaube, das ist alles«, sagte er. »Steigen Sie auf, Miß.«

Er half ihr hinauf. »Halten Sie sich gut fest«, warnte er sie. »Bronco ist nicht das zahmste Reittier.«

»Ich gebe acht«, sagte sie ein wenig unsicher.

»Und jetzt du«, sagte Elmer zu mir. Ich öffnete den Mund zu erneutem Widerspruch, schwieg jedoch, weil ich seine Eigensinnigkeit kannte. Außerdem war es tatsächlich klüger, auf ihm zu reiten. Falls wir uns wirklich fluchtartig absetzen mußten, konnte er es zehnmal schneller tun als ich. Seine langen Metallbeine waren die reinsten Kilometerfresser.

Er hob mich auf seine Schultern; ich setzte mich in seinen Nacken. »Du hältst dich an meinem Kopf fest, damit du im Gleichgewicht bleibst«, sagte er. »Ich halte deine Beine. Ich werde dafür sorgen, daß du nicht herunterfällst.«

Ich nickte, obwohl ich mich nicht sonderlich wohl fühlte. Ich fand es verdammt würdelos.

Wir brauchten uns nicht zu beeilen. Ringsum war niemand zu sehen, ausgenommen eine Gestalt, die fern in nördlicher Richtung auf einem Weg zwischen den Grabsteinen schwerfällig einherstapfte. Dennoch mußten uns Menschen beobachten; ich konnte ihre Blicke beinahe spüren. Wir müssen ein merkwürdiger Anblick gewesen sein - Cynthia, die auf diesem grashüpferähnlichen, hoch mit Kästen und Ballen bepackten Bronco ritt, und ich, der ich auf dem zwei Meter großen Elmer schaukelte.

Wir liefen nicht, zeigten nicht einmal Eile, aber wir kamen zügig voran. Bronco und Elmer waren gute Marschierer. Selbst bei ihrer normalen Gangart hätte ein Mensch rennen müssen, um mit ihnen Schritt halten zu können.

Unter Geschlinger und Gerassel bogen wir auf die Straße ein, passierten das Verwaltungsgebäude und drangen in den Hauptteil des Friedhofsgeländes vor. Die Straße lag verlassen, und die Gegend schien friedlich. Gelegentlich sahen wir in der Ferne ein kleines Dorf, in eine Mulde geschmiegt, den schlanken Finger eines Kirchturms, der gen Himmel wies, verwaschene Farben, bei denen es sich um die Hausdächer handelte. Ich nahm an, daß diese kleinen Dörfer die Wohnstätten der Arbeiter waren, welche der Friedhof beschäftigte.

Während ich so ritt und unter Elmers schlenkernden Schritten schaukelte und schwankte, erlangte ich die Erkenntnis, daß der Friedhof, all seiner gepriesenen Schönheit zum Trotz, in Wirklichkeit ein äußerst bedrückender Ort war, öde und schaurig. Seine Gleichmäßigkeit, seine endlose Ordentlichkeit waren zermürbend, und über allem schwebte ein Hauch von Tod und Vergänglichkeit.

Zuvor hatte ich keine Zeit dafür erübrigen können, um mir Sorgen zu machen, doch nun begann ich mich zu sorgen. Am stärksten sorgte mich seltsamerweise, daß die Friedhofsverwaltung, nach einem reichlich läppischen Versuch, keine echte Anstrengung unternommen hatte, um uns aufzuhalten. Wäre Elmer außerstande gewesen, überlegte ich, seine Kiste zu sprengen, hätten Reilly und seine Männer mich allerdings in eine schwierige Lage gebracht. Doch wie die Dinge jetzt standen, hatte ich nahezu den Eindruck, daß Bell uns getrost gehen ließ, weil er wußte, daß er jederzeit und überall zuschlagen konnte. Hinsichtlich Maxwell Peter Bell wollte ich mich keinem Selbstbetrug hingeben.

Außerdem fragte ich mich, ob man andere Maßnahmen gegen uns einleiten würde. Vielleicht hatten sie das nicht nötig; höchstwahrscheinlich interessierten sich Bell und der Friedhof nicht länger sonderlich für uns. Wir durften uns herumtreiben, wo wir's wünschten, und es war gleichgültig. Wohin wir auch gingen oder was wir taten, es gab keine Möglichkeit, die Erde ohne die Unterstützung des Friedhofs wieder zu verlassen.

Ich hatte alles verdorben, so sagte ich mir. Ich war angekommen und hatte angesichts von Bells hochtrabendem Verhalten den Neunmalklugen gespielt; damit hatte ich jede Chance irgendeiner konstruktiven Übereinkunft mit Bell oder dem Friedhof vertan. Vielleicht wäre die Art meines Auftretens aber auch gleichgültig gewesen. Mir hätte klar sein müssen, daß man auf der Erde nach den Noten des Friedhofs musizierte oder überhaupt nicht. Das ganze verdammte Abenteuer war vom Anfang an zum Scheitern verur-teilt gewesen.

Es war mir zwar nicht lange erschienen, aber wir mußten schon seit geraumer Zeit unterwegs sein - ich war in meine sorgenvollen Gedanken vertieft gewesen, daß ich das Zeitgefühl völlig verloren hatte -, als die Straße sich über einen Hügel hinzog - und endete; und damit hatten wir auch die Friedhofsgrenze erreicht.

Ich starrte ins Tal unter uns hinab und auf die Reihen von Hügeln, die sich jenseits des Tals erhoben, und bei diesem Anblick sog ich vor Staunen heftig den Atem ein. Vor uns erstreckte sich ein seltsames Waldgebiet, gekleidet in eine flammende Farbenpracht, die in der nachmittäglichen Sonne zu brennen schien.

»Herbst«, sagte Elmer. »Ich hatte vergessen, daß es auf der Erde einen Herbst gibt. Auf dem Friedhof konnte man es nicht feststellen. Dort sind alle Bäume grün.«

»Herbst?« fragte ich.

»Eine Jahreszeit«, sagte Elmer. »Eine bestimmte Zeit des Jahres, in der das Laub der Bäume sich verfärbt. Ich hatte es seltsamerweise ganz vergessen.«

Er drehte seinen Kopf so, daß er auf zu mir blicken konnte. Wäre er zum Weinen fähig gewesen, er hätte geweint.

»Man vergißt so vieles«, gestand er.

5

Es war eine Welt der Schönheit, aber kraftvoller, strenger, rauher Schönheit, anders als die zarte, fast zerbrechliche Schönheit von Alden, feierlich und beeindruckend, und in ihre Beschaffenheit und ihre Farben war ein Anflug von Ergriffenheit und Furcht verflochten.

Ich saß auf einem mit Moos überwachsenen Felsblock neben einem plätschernden, dunkelbraunen Bach, der auf seiner Oberfläche jene roten und goldenen und gelben, zauberhaften Boote mittrug, die gefallenen Blätter. Wenn man scharf lauschte, konnte man am Ufer das dunkelbraune Wasser kehlig gurgeln hören, und das leise, ferne Geräusch anderer Blätter, die von den Bäumen sanken und sich raschelnd zu ihresgleichen gesellten. Und trotz all der Farben und der Schönheit spürte man eine uralte Trauer. Ich saß und lauschte dem Vorübergleiten des Wassers und dem leisen Rascheln der Blätter; ich betrachtete die Bäume und sah, daß sie massive Gewächse waren, ein Gefühl von Alter verbreiteten, eine Empfindung von Sicherheit, Geborgenheit und Trost. Hier gab es Farben, Geräusche und Stimmung, Qualität und Struktur, und ein Gewebe, das sich mit den geistigen Fingern betasten ließ.

Die Sonne sank und warf nebelhafte Lichtschleier über den Fluß und die Bäume, und die Luft begann abzukühlen. Ich wußte, daß es an der Zeit war, ins Lager zurückzukehren. Aber ich wollte nicht gehen. Denn ich spürte, daß man diesen Ort, nachdem man ihn einmal gesehen hatte, niemals wiedersehen würde. Ging man und kam später zurück, würde er nicht der gleiche sein; wie oft ich auch diese Stelle aufsuchen mochte, dieser Ort und das Gefühl, das er vermittelte, würden niemals gleichartig sein, etwas würde fehlen oder etwas anderes hinzugekommen sein, und nie wieder, bis in alle Ewigkeit, würden all die aufeinander abgestimmten Einzelheiten, die integrierten Faktoren, wieder in genau der Zusammenstellung existieren, die den Ort zu dem machte, was er in diesem magischen Moment war.

Hinter mir kollerte ein Stein; ich drehte mich um und erkannte Elmer, der sich durch den abendlichen Dunst näherte. Ich sagte nichts zu ihm, und er schwieg ebenfalls, kauerte sich jedoch neben mich nieder; wir schwiegen beide, denn es brauchte nichts gesagt zu werden. Während ich dort saß, erinnerte ich mich an die zahlreichen Gelegenheiten, die ähnlich gewesen waren wie diese - als es zwischen Elmer und mir keiner Worte bedurft hatte. Wir saßen noch am Fluß, als die Dämmerung sich verdichtete, und in der Ferne erklang ein Heulen, dem wenig später ein leises Bellen folgte. Unaufhörlich und geschwätzig strömte das Wasser vorüber, während die Dunkelheit heraufzog.