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»Das ist wahr«, sagte ich. »Ich habe an der dortigen Universität studiert. Bis jetzt vermochte ich mich nie dazu durchzuringen, ihn für immer zu verlassen.«

»Woher stammen Sie, Fletcher?«

»Rattlesnake«, antwortete ich. »Schon einmal davon gehört?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Da haben Sie Glück«, meinte ich. »Stellen Sie keine Fragen. Erzählen Sie bitte weiter.«

»Am besten über mich, schätze ich«, sagte sie. »Ein paar Informationen über mich. Ich wollte schon immer etwas aus mir machen. Ich kann mir denken, daß in der Vergangenheit viele Lansings das gleiche versucht haben, aber es wurde nichts daraus. Wie vielleicht auch aus mir nichts wird. Es ist ein wenig zu spät, um noch etwas für das Image der Lansings tun zu können. Mein Vater starb schon in jungen Jahren. Er besaß eine einigermaßen einträgliche Farm - keine reiche Farm, aber eine, die den Unterhalt sicherte und darüber hinaus ein bißchen abwarf. Meine Mutter führte sie nach seinem Tod weiter und erwirtschaftete genug, um mir ein Universitätsstudium zu ermöglichen. Mein Interesse galt der Geschichte. Ich träumte davon, einmal einen Lehrstuhl zu erhalten, sachkundige Forschungen zu betreiben und bahnbrechende Untersuchungen zu verfassen. Ich war eine gute Studentin. Ich mußte wohl eine sein. Meine ganze Zeit habe ich dem Studium gewidmet. Viele andere Dinge, die das Studentenleben bieten kann, habe ich versäumt. Heute ist mir das klar, aber es macht mir nichts aus. Nichts in der Welt faszinierte mich mehr als Geschichte. Ich schwelgte regelrecht darin - untergegangene Stätten, längst verstorbene Menschen, alte Zeiten. Des Nachts, im Bett, im Finstern, stellte ich mir vor, ich reiste mit einer Zeitmaschine in die ferne Vergangenheit, zu jenen fernen Stätten, und beobachtete die Menschen der alten Zeiten. Ich lag in der Dunkelheit und stellte mir vor, ich läge in meiner Zeitmaschine, die durch die alten Länder und Zeiten reiste, und dicht hinter der Wand verdunkelter Zeit wohnten und atmeten und regten sich jene Menschen, denen nachzuspionieren ich unterwegs war, daß ringsum jene großen Ereignisse geschähen, welche den Lauf der Zeit bestimmten. Als es soweit kam, daß ich mich spezialisieren, mich für ein Spezialgebiet entscheiden mußte, wurde mir bewußt, daß mich das Studium Der Alten Erde unwiderstehlich anzog. Mein Berater warnte mich. Er setzte mir auseinander, daß das ein sehr begrenztes Fachgebiet sei und das Quellenmaterial sehr beschränkt. Ich wußte, daß er recht hatte, und gab mir Mühe, mich von ihm überzeugen zu lassen, aber es half nicht. Ich war besessen von der Erde. Diese meine Besessenheit, dessen bin ich ziemlich sicher, beruhte teilweise auf einer Verbindung mit der Vergangenheit, meiner Teilnahme für die frühen Anfänge. Die Farm meines Vaters lag nur wenige Meilen entfernt vom ursprünglichen Siedlungsplatz der ersten Lansings auf Alden, das heißt, jedenfalls den Familienlegenden zufolge. Tief in einer kleinen Felsschlucht, an einer Stelle, wo sie sich gegen eine Landschaft öffnete, die einmal ein fruchtbares, anbaufähiges Tal gewesen sein mußte, stand ein altes, steinernes Haus, oder etwas, das einst ein Steinhaus war. Weite Teile waren eingestürzt, die Steine selbst mit der Zeit verwittert, schief durch die geringfügigen Erdbewegungen, die sich erst nach vielen Jahrhunderten ernsthaft auswirken würden. Um dieses Haus gab es keine Geschichten. Es war kein Spukhaus. Es stand bloß ganz einfach dort. Für ein Spukhaus war es schon zu alt. Die Zeit hatte es in einen Teil der Landschaft verwandelt. Es blieb unbemerkt. Es war zu alt und verfallen, um die Aufmerksamkeit von Menschen zu erregen, allerdings hatten viele kleine Wildtiere, wie ich bei meinem Besuch feststellte, es zu ihrem Heim gemacht. Der Boden, worauf es stand, und das Land ringsum waren so armselig und wertlos, daß das Haus nichts und niemanden störte, und deshalb war es dem Abbruch und der Vernichtung entgangen, dem herkömmlichen Schicksal so vieler alter Dinge. Tatsächlich ist das gesamte Gebiet durch die ökonomische Nutzung vollständig ausgelaugt, durch Jahrhunderte inzwischen in Vergessenheit geratenen Anbaus völlig verdorben, so daß sich dort selten jemand blicken läßt. Eine Familienlegende - jedoch eine sehr fragwürdige, wie ich zugeben muß - behauptete, das Haus sei einst der Wohnsitz eines sehr frühen Lansing gewesen. Ich ging hin, weil es so uralt war, glaube ich, und nicht, weil es vielleicht einem Lansing gehört hatte -einfach, weil es so alt war, älter als das Gedächtnis der Menschen zurückreicht, ein Bauwerk aus ferner Vergangenheit. Ich versprach mir nichts davon. Ich besuchte es an einem freien Tag. Sie müssen mich verstehen, es war nur ein Ausflug, ein Zeitvertreib. Ich kannte das Haus natürlich schon seit langem und hatte es übersehen, wie alle anderen. Viele andere wußten ebenfalls von seiner Existenz und akzeptierten sie wie die Existenz eines Baums oder eines Felsens. Das Haus besaß keinerlei Anziehungskraft, gar keine. Vielleicht hätte ich nie daran gedacht, außer im Vorübergehen, womöglich wäre ich nie hingegangen, hätte mein Sinn für alte Dinge sich nicht allmählich immer mehr geschärft. Begreifen Sie, was ich Ihnen klarzumachen versuche?«

»Ich glaube«, sagte ich, »daß ich Sie weitaus besser verstehe, als Sie an-nehmen. Ich kenne die Symptome. Ich habe höchst akut darunter gelitten.«

»Also ging ich hin«, sprach sie weiter, »und streichelte mit meinen Händen die alten, roh behauenen Steine, und ich dachte an jene Menschenhände, längst zu Staub zerfallen, die sie geklopft und aufeinandergetürmt hatten, zum Schutz gegen die Nacht und die Unbill des Wetters, zum Heim auf einem neuentdeckten Planeten. Ich sah es durch die uralten Augen der Erbauer und verstand, was sie an diesem Ort zum Hausbau verlockt haben mochte, warum sie ausgerechnet diese Stelle gewählt hatten, um ein Haus zu errichten. Die Wände des Canyons boten Schutz gegen den heftigen Wind, die stille, erschütternde Schönheit der Gegend, das Wasser aus der Quelle, die noch immer als spärliches Rinnsal aus der Felswand sprudelte, das weite, furchtbare Tal - jetzt nicht länger fruchtbar - welches sich praktisch direkt vor der Tür zu erstrecken begann. Ich stand dort an ihrer Stelle und fühlte mich so, wie sie sich gefühlt haben mußten. Einen Moment lang war ich sie. Und es zählte wirklich nicht sonderlich, ob sie nun Lansings gewesen waren oder keine; sie waren Menschen gewesen, hatten der menschlichen Rasse angehört. Wäre ich gleich wieder gegangen, das allein hätte mich für die aufgewandte Zeit reichlich belohnt. Die Berührung der Steine, die Zeugnisse der Vergangenheit, sie wären bei weitem genug gewesen, aber dann betrat ich das Haus ...«

Sie schwieg für einen Moment, als müsse sie sich für den Rest des Berichts erneut sammeln.

»Ich ging ins Haus«, sagte sie, »und das war eine Tollkühnheit, denn in jedem Augenblick hätten Teile davon niederbrechen können, auf mich herab. Manche Steine hingen gefährlich locker, das ganze Ding war schlichtweg baufällig. Ich erinnere mich nicht, ob ich damals überhaupt einen Gedanken daran verschwendet habe. Ich tat meine Schritte behutsam, nicht wegen einer Gefahr, sondern wegen jener Heiligkeit von Zeit, die das Haus erfüllte. Es war seltsam, dieses Gefühl, das mich bewegte - oder, genauer gesagt, die einander widerstreitenden Gefühle. Zuerst, beim Eintreten, hatte ich das Gefühl, ein Eindringling zu sein, ein Außenseiter, der kein Recht dazu besaß, sich dort aufzuhalten. Ich drang in alte Erinnerungen ein, in alte Leben, alte Gefühle, die allein und in Frieden gelassen werden sollten, die schon so lange dort weilten, daß sie das Recht erworben hatten, alleingelassen zu werden. Ich ging hinein, in etwas, das einmal ein ziemlich großer Raum gewesen sein mußte, vielleicht so etwas wie ein Wohnzimmer. Am Boden lag dick der Staub, und dem Staub hatten kleine Wildtiere ihre Spuren aufgedrückt, und der Geruch wilder Tiere, die während der verstrichenen Jahrtausende dort gewohnt hatten, haftete allem an. In den Ecken hatten Insekten seidene Netze gesponnen, und manche ältere Netze waren so ver-staubt wie der Boden. Aber als ich dort stand, unmittelbar hinter der Tür, widerfuhr mir etwas Seltsames - ein Gefühl überkam mich, daß ich das Recht besaß, dort zu sein, dorthin zu gehören, daß ich nach langer, langer Zeit zurückkehrte an eine vertraute Stätte und ein willkommener Gast war. Denn hier hatte Blut von meinem Blut gelebt, Fleisch von meinem Fleisch, und die Zeit vermag das Recht von Fleisch und Blut nicht auszulöschen. In einer Ecke befand sich ein Kamin. Der Schornstein war fort, längst eingestürzt, aber der Kamin war noch vorhanden. Ich ging hinüber, kniete mich nieder und berührte den Herdstein mit meinen Fingern, fühlte unter dem Staub die Beschaffenheit seiner Oberfläche. Ich blickte in den geschwärzten Rachen des Kamins, geschwärzt von den einstigen Kaminfeuern; der Ruß war geblieben, er widerstand der Zeit und dem Wetter, und für einen Moment schien es mir, als könne ich die aufgestapelten Scheite und die Flammen sehen. Und ich sagte - ich weiß nicht, ob ich es laut aussprach oder nur dachte -, ich sagte: Es ist gut, ich bin heimgekommen, um euch zu sagen, daß die Lansings noch bestehen. Ich befand mich keine Sekunde lang darüber im Zweifel, zu wem ich es sagte. Ich wartete nicht auf eine Antwort. Ich rechnete mit keiner Antwort. Niemand war dort, um zu antworten. Es genügte, daß ich es gesagt hatte. Ich war es ihnen schuldig gewesen.«