»Sie waren verwirrt«, sagte er. »Wahrscheinlich haben die Pferde dort unten gestanden, bevor eure Freunde aufbrachen, als ihr die Höhle bezogen habt. Sie brauchten eine Weile, um die Spur herauszufinden.«
Cynthia wollte etwas sagen, begann jedoch zu würgen, so daß die Wörter in ihrer Kehle erstickten. Das vermochte ich gut nachzuempfinden; auch mein Mund war so trocken, daß ich Zweifel daran hegte, je wieder sprechen zu können.
Sie versuchte es nochmals und schaffte es diesmal. »Ich dachte, sie fänden uns. Ich hatte geglaubt, sie wüßten, daß wir hier sind.«
»Nun ist es vorbei«, sagte der Volkszähler. »Die Gefahr ist vorerst vorüber. Ich schlage vor, wir gehen zurück in die Höhle und machen es uns bequem.«
Ich stand auf und zog Cynthia mit mir hoch. Meine Muskeln waren verspannt und verkrampft. Da wir eine ganze Weile ins Mondlicht gestarrt hatten, erschien uns nun das Innere der Höhle so pechschwarz wie ein Tintenfaß, aber ich tastete mich an der Felswand entlang, fand die aufgestapelten Bündel und Gepäckstücke und setzte mich, indem ich mich dagegen lehnte. Cynthia nahm neben mir Platz.
Der Volkszähler hockte sich vor uns nieder. Da die Robe, die er trug, so schwarz war wie das Höhleninnere, konnten wir ihn kaum sehen. Nur die helle Farbe seines Gesichts war erkennbar, ein bleicher Fleck in der Finsternis, ein Klumpen ohne Gesichtszüge.
»Ich glaube«, sagte ich, »wir müssen dir dankbar sein.«
Er vollführte eine ruckartige Bewegung, wahrscheinlich ein Achselzuk-ken. »Man trifft selten Verbündete«, sagte er. »Wenn es einmal geschieht, dann gibt man sich alle Mühe, man macht dann, was man machen kann.«
In der Höhle begannen Schatten zu wallen, zuckende Schemen. Entweder waren sie gerade erst entstanden oder ich hatte sie zuvor nicht bemerkt. Nun waren sie überall.
»Hast du deine Leute hereingerufen?« fragte Cynthia, und dem gepreßten Klang ihrer Stimme entnahm ich, welche Anstrengung es sie kostete, sich zu beherrschen.
»Sie waren schon die ganze Zeit über hier«, erwiderte der Volkszähler. »Sie müssen sich stets erst überwinden, bevor sie sich zeigen. Sie erscheinen langsam und lautlos, aber sie wollen niemanden erschrecken.«
»Es ist schwer«, sagte Cynthia, »sich vor Geistern nicht zu fürchten. Oder wie nennst du sie?«
»Gespenster«, sagte der Volkszähler. »Das ist wahrscheinlich das bessere Wort.«
Nun war ich an der Reihe, Fragen zu stellen. »Warum das?«
»Der Grund dafür«, antwortete der Volkszähler, »liegt in der damit verbundenen Semantik, die zu erklären es eines ganzen Abends bedürfte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich selber sie vollständig verstehe. Aber das ist der Terminus, den sie vorziehen.«
»Und du?« fragte ich. »Was bist du?«
»Ich verstehe dich nicht«, sagte der Volkszähler.
»Nun, wir beide hier, wir sind Menschen. Diese Schatten hier sind - wie du sagst - Gespenster. Die Wesen, die wir beobachtet haben, waren Roboter - Stahlwölfe. Ich meine die Zuordnung. Wie bist du einzuordnen?«
»Ach so«, sagte der Volkszähler, »das meinst du. Das ist wirklich ganz einfach. Ich bin der Volkszähler.«
»Und die Wölfe?« mischte sich Cynthia ein. »Sie gehören dem Friedhof, nehme ich an.«
»O ja, in der Tat«, sagte der Volkszähler. »Allerdings werden sie heutzutage nur noch selten benutzt. Früher gab es sehr viel Arbeit für sie.«
»Was für Arbeit?« erkundigte ich mich verwirrt.
»Monster«, sagte der Volkszähler; ich hörte heraus, daß er darüber nicht zu sprechen wünschte.
Die Gespenster stellten ihr unablässiges Wallen allmählich ein und beruhigten sich, so daß man ihre Umrisse erkennen oder wenigstens erahnen konnte.
»Sie haben euch gern«, meinte der Volkszähler erfreut. »Sie wissen, daß ihr auf unserer Seite steht.«
»Wir stehen auf niemandes Seite«, teilte ich ihm mit. »Wir befinden uns auf der Flucht, damit man uns nicht umbringt. Vom ersten Tag an, als wir ankamen, hat ständig jemand niederträchtige Angriffe gegen uns geführt.«
Eins der Gespenster hatte sich neben dem Volkszähler niedergekauert; dabei verströmte es ein wenig von seiner nebelhaften, dunstigen Substanz, verfestigte sich jedoch keineswegs, sondern schien bloß ein bißchen greifbarer zu werden. Man hatte unverändert den Eindruck, durch es hindurchsehen zu können, aber das Wirbeln seiner Gestalt hatte aufgehört, die Umrisse waren schärfer, und es glich nun einer recht kunstfertigen Kreidezeichnung auf einer Tafel.
»Falls es euch nichts ausmacht«, sagte dieses Gespenst, »werde ich mich vorstellen. Mein Name rief in längst vergangenen Zeiten auf dem Planeten Prairie Angst und Schrecken hervor. Das ist ein seltsamer Name für einen Planeten, gewiß, aber er erklärt sich daraus, daß es ein sehr großer Planet ist, größer als die Erde und mit entschieden mehr Landmassen als Wasserflächen, und all das Land ist flach, besitzt keine Berge, alles ist Prärie. Es gibt keinen Winter, weil der Wind ungehindert übers Land bläst und die Wärme der Sonne, um die der Planet kreist, gleichmäßig über die gesamte Planetenoberfläche verteilt. Wir Siedler lebten auf Prairie in ewigem Sommer. Wir waren Menschen vom Planeten Erde. Unsere Ahnen flogen mit dem dritten Auswandererschub hinaus in die Galaxis. Auf der Suche nach besserem Lebensraum waren sie von einem Planeten zum nächsten geirrt und fanden ihn schließlich auf Prairie - aber vielleicht anders, als ihr es euch vorstellt. Wir bauten keine großen Städte, aus Gründen, die ich möglicherweise später erläutern werde, aber nicht jetzt, da es zu lange dauern würde, alles zu erzählen. Statt dessen wurden wir Nomaden, die mit ihren Herden und ihrem Kleinvieh umherziehen, ein unter Umständen befriedigenderes Dasein als andere Menschen sich eins einzurichten vermögen. Auf dem Planeten hauste eine Eingeborenenrasse von überaus widerlichen, grausamen und heimtückischen Teufeln, die sich jeder Art von Zusammenarbeit mit uns widersetzten und alles versuchten, um uns auf diese oder jene ruchlose Weise zu vernichten. Ich begann, glaube ich, mich vorzustellen, habe aber dann meinen Namen zu sagen vergessen. Es ist ein guter Erdenname, da meine Familie und mein Clan immer sorgsam darauf bedacht waren, das Erbe der Erde zu bewahren und ...«
Hier unterbrach ihn der Volkszähler. »Sein Name lautet Ramsey O'Gillicuddy, nach meiner Kenntnis ein äußerst guter Erdenname. Ich sage das, weil er nie dazu kommen wird, wenn die Vorstellung ihm überlassen bleibt.«
»Und jetzt«, sagte das Gespenst des Ramsey O'Gillicuddy, »da ich vorgestellt bin, will ich euch die Geschichte meines Lebens erzählen.«
»Nein, das wirst du nicht!« fuhr der Volkszähler ihn an. »Dafür haben wir keine Zeit. Wir müssen viel besprechen.«
»Dann wenigstens die Geschichte meines Todes«, bat das Gespenst des Ramsey O'Gillicuddy.
»Also gut«, nickte der Volkszähler. »Aber fasse dich kurz.«
»Sie erwischten mich«, berichtete Ramsey O'Gillicuddys Gespenst, »diese schmierigen, widerwärtigen Eingeborenen, sie nahmen mich gefangen. Die Einzelheiten, welche zu dieser beschämenden Tatsache führten, will ich auslassen, weil die Erklärung gewisser Umstände vonnöten wäre, uns jedoch, wie der Volkszähler soeben erwähnte, dafür die Zeit fehlt. Wie dem auch sei, sie nahmen mich gefangen und hielten in meiner Hörweite eine ausgedehnte, sehr bedächtige und feierliche Beratung ab, die mir ganz und gar nicht gefiel und in der es darum ging, wie ich am besten zu töten sei. Keine der vorgeschlagenen Prozeduren, die man ersann, um mein Ableben herbeizuführen, war geeignet, um mich, als das Opfer, kühlen Kopf bewahren zu lassen. Nichts Einfaches, müßt ihr wissen, wie etwa ein Schlag auf den Schädel oder ein Durchschneiden der Kehle, sondern ziemlich lange, ausgetüftelte, raffinierte Verfahren. Nach stundenlangem Hin- und Hergerede, bei dem sie mich freundlicherweise immer wieder in die jeweiligen Pläne einweihten, um meine Meinung dazu zu erfahren, beschlossen sie schließlich, mich bei lebendigem Leibe zu häuten, wobei sie aber erklärten, mich damit nicht töten zu wollen, und ich sollte ihnen deswegen auch nicht böse sein, und überhaupt wollten sie mich mit Freuden ziehen lassen, wenn ich es fertigbrächte, ohne Haut zu überleben. Hatten sie dann meine Haut, verkündeten sie mir, wollten sie dieselbe trocknen, über eine Trommel spannen und meinem Clan darauf eine Spottnachricht übermitteln.«