»Sieh einmal«, sagte ich. »Es kann sein, daß sie sich beim Friedhof einschmeicheln wollen. Sie bemerkten, daß die Wölfe nach uns spürten, und wer als der Friedhof konnte sie losgeschickt haben? Und die Wölfe hatten versagt. Für Leute wie unsere Grabschänder dürfte es naheliegend gewesen sein, die Gelegenheit wahrzunehmen und dem Friedhof unsere Köpfe zu bringen, um sich anzubiedern. So einfach liegt der Fall.«
»Möglicherweise«, sagte sie. »Der Himmel mag's wissen. Im Moment klingt es jedenfalls einleuchtend.«
»Und deshalb empfiehlt es sich«, sagte ich, »den Weg nun fortzusetzen.«
Wir überquerten den Hügel und gelangten alsbald in eine Schlucht, in der Gesteinstrümmer verstreut lagen; ihr schloß sich ein Tal an. Das Tal war ziemlich weitläufig, so daß wir leichter vorankamen.
Nach einer Weile erreichten wir einen Baum, den ein gewaltiger Weinstock beinahe völlig überwuchert hatte, und ich kletterte hinauf. Vögel und kleines Getier hatten die meisten Reben kahlgefressen, aber ich fand einige, die noch die Mehrzahl ihrer Trauben trugen. Ich pflückte sie und ließ sie abwärts durchs Geäst fallen. Die Trauben schmeckten reichlich sauer, aber das war uns gleichgültig. Wir waren hungrig, und sie füllten unsere Mägen; ich war mir jedoch dessen bewußt, daß wir uns künftig auf andere Weise ernähren mußten. Von Trauben konnten wir auf Dauer nicht leben. Angelhaken hatten wir nicht, aber ich besaß ein Taschenmesser, mit dem sich Weidenruten schneiden ließen, aus denen wir womöglich einen Korb anfertigen und ihn als eine Art von Schleppnetz verwenden konnten. Vielleicht vermochten wir auf diese Weise Fische zu fangen. Mir fiel ein, daß wir kein Salz hatten; aber sobald wir hungrig genug waren, kamen wir sicher gut ohne aus.
»Glaubst du, Fletch«, fragte Cynthia, »daß wir Elmer jemals finden werden?«
»Vielleicht findet Elmer uns«, sagte ich, um sie zu ermutigen. »Er wird uns suchen.«
»Wir haben Nachricht hinterlassen«, meinte sie.
»Die Nachricht ist nicht länger dort«, rief ich ihr ins Gedächtnis zurück. »Die Grabräuber hatten sie gefunden. Sie haben sie bestimmt nicht zurückgelassen.«
Das Tal war breiter als die Schlucht, aber wir gelangten keineswegs in flaches Land. Im Gegenteil, die Berge erhoben sich noch mächtiger als zuvor und schienen uns erdrücken zu wollen. Wir befanden uns zwischen hohen Felswänden, die beiderseits bis in eine Höhe von ungefähr fünfzig Meter aufragten. Die Landschaft legte ihren erfreulichen Charakter rasch ab, wurde immer schauriger und furchteinflößender. Der Bach, welcher hier floß, war breit, und er besaß weder Untiefen noch Schnellen. Er murmelte nicht, sondern rauschte machtvoll dahin. Die Sonne stand tief im Westen, und mit einiger Überraschung stellte ich fest, daß wir den ganzen Tag lang marschiert waren; ich war zwar müde, fühlte mich aber keineswegs zerschlagen wie nach einem Tagesmarsch.
Die Steilwand wich zurück. Wir erreichten eine Felsspalte. Mächtige Bäume umstanden sie, und über ihr klammerten sich einige struppige Zedern ins Gestein.
»Sehen wir uns das genauer an«, sagte ich. »Wir brauchen einen Platz zum Übernachten.
»Wir werden scheußlich frieren ohne Decken«, meinte Cynthia.
»Wir machen ein Feuer«, entgegnete ich.
Sie erschauderte. »Können wir uns das erlauben? Ist es nicht zu gefährlich?«
»Wir müssen unbedingt eins machen«, erwiderte ich.
In der Felsspalte war es dunkel. Zwischen den Felswänden konnten wir nicht erkennen, wie weit hinein sie reichte, denn die Finsternis wuchs, Als wir tiefer in den Riß eindrangen. Der Untergrund war kiesig, aber ein Stück hinter dem Zugang befand sich eine leicht erhöhte Felsplatte.
»Ich suche Holz«, sagte ich.
»Fletch!«
»Wir müssen ein Feuer anzünden«, sagte ich. »Wir müssen es ganz einfach wagen. Ohne Feuer würden wir erfrieren.«
»Ich habe Angst«, sagte sie leise.
Ich sah sie an. In der Dunkelheit war ihr Gesicht nur ein fahler Fleck.
»Nun habe ich doch Angst«, sprach sie weiter. »Und ich hatte gedacht, es müsse nicht sein. Ich hatte mir vorgenommen, keine zu haben. Ich war sicher, es durchhalten zu können. Draußen, am hellen Tag, da ging es auch immer. Aber nun wird es Nacht, Fletch, und wir haben weder Lebensmittel noch wissen wir, wo wir sind ...«
Ich trat zu ihr und nahm sie in meine Arme. Sie drängte sich an mich, umarmte mich ihrerseits. Und zum ersten Mal, seit alles angefangen hatte, seit jenem Augenblick, als ich aus dem Verwaltungsgebäude die Treppe hinunterging und sie unten im Wagen saß, betrachtete ich sie als Frau, und ich wunderte mich ein wenig, wieso es so lange gedauert hatte. Zuerst hatte ich sie als lästigen Anhang empfunden, als sie urplötzlich mit Thorneys seltsamem Brief aufgetaucht war. Dann hatten die Ereignisse sich überstürzt und ließen uns nicht zur Ruhe kommen. Immerhin hatte sie sich als guter Kamerad erwiesen, nie genörgelt oder Aufregungen verursacht.
Wenn ich mein Verhalten kritisch beurteilte, schnitt ich weniger gut ab. Ihr unterwegs ein paar nette Komplimente zu machen, hätte gewiß nicht geschadet. In dieser Hinsicht war meine Haltung sicherlich falsch gewesen.
»Wir sind wie große Kinder«, sagte sie, »wie Hänsel und Gretel im Wald. Kennst du dieses alte Erdenmärchen?«
»Natürlich kenne ich es«, sagte ich. »Vögel kamen und fraßen die Brotkrumen weg ...«
Sie hob den Kopf. »Jetzt ist mir etwas wohler zumute«, sagte sie. »Es tut mir leid.«
Ich legte meine Hand unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht. Dann küßte ich sie.
»Laß uns Holz sammeln«, sagte sie.
Die Sonne war fast hinterm Horizont verschwunden, doch es war noch hell. Wir fanden in der Felsspalte viel verstreutes Holz. Das meiste war Zeder, morsches Geäst von den Bäumen, die oberhalb der Spalte am kahlen Fels ihr kümmerliches Dasein fristeten.
»Als Feuerstelle ist die Spalte gut geeignet«, erklärte ich. »Niemand kann das Feuer sehen. Um es sehen zu können, muß man der Felsspalte direkt gegenüber stehen.«
»Und was ist mit dem Rauch?« fragte sie.
»Das Holz ist trocken«, antwortete ich. »Rauch wird es kaum geben.«
Ich behielt recht. Das Holz brannte mit heller, ruhiger Flamme, die nur wenig Rauch entwickelte. Als wir uns an der Glut zusammenkuschelten, war die Nachtkühle noch gar nicht heraufgezogen. Das Feuer war Freund und Wohltat zugleich. Es vertrieb die Dunkelheit, schenkte uns das Gefühl der Geborgenheit. Es wärmte und umfing uns mit seinem Schein, schirmte uns darin ab.
Draußen ging die Sonne unter, und außerhalb der Felsspalte sank die Dämmerung herab. Die Welt lag im Finstern, und wir waren allein.
Jenseits des Feuers, an der Grenze zur Dunkelheit, bewegte sich etwas. Ein helles Klirren ertönte, als etwas über Stein scharrte.
Ich sprang auf und sah undeutlich einen länglichen Körper. Der Wolf trottete herein; sein stählerner Leib schimmerte im Feuerschein. Zwischen seinen Stahlfängen baumelte schlaff ein erlegter Hase.
17
Als O'Gillicuddy und seine Gespensterhorde erschienen, waren wir mit dem Hasen gerade fertig. Ohne Salz schmeckte er natürlich nicht wie eine Delikatesse, aber es war eine anständige Mahlzeit, und außer den Trauben hatten wir während des ganzen Tages nichts gegessen. Die bloße Tatsache, daß wir aßen, erleichterte unsere Lage und ermutigte uns ein wenig.
Wolf lag zwischen uns ausgestreckt, dicht am Feuer; sein schwerer Kopf ruhte auf den Metallpfoten.
»Wenn er nur sprechen könnte«, sagte Cynthia. »Das wäre wundervoll. Er könnte uns berichten, was vorgefallen ist.«
»Wölfe sprechen nicht«, sagte ich, während ich an einem Hasenbein nagte.
»Aber Roboter«, erwiderte sie. »Elmer kann sprechen. Sogar Bronco kann es. Auch der Wolf ist ein Roboter. Man hat ihm lediglich einen Wolfskörper verliehen.«