»Das ist er sicherlich nicht«, sagte O'Gillicuddy. »Was er ist, das weiß ich nicht. Ich habe ihn stets als menschliches Geschöpf betrachtet, obwohl er im engeren Sinne kein Mensch ist und nicht wie ein Mensch aussieht, und es gibt nur einen seiner Art...«
»Hör einmal«, sagte ich. »Ihr seid gewiß nicht bloß gekommen, um uns Gesellschaft zu leisten, sondern mit bestimmten Absichten. Ihr wärt nicht gekommen, um uns nur schlechte Neuigkeiten zu bringen. Worum also geht es?«
»Wir sind viele«, konstatierte das Gespenst. »Wir haben uns in großer Zahl versammelt. Weil wir großes Mitleid und eine merkwürdige Verbundenheit mit euch empfinden, haben wir den Clan zusammengerufen. Noch nie vor euch hat jemand auf der Erde dem Friedhof so beherzt die Stirn geboten.«
»Und das gefällt euch?«
»Das gefällt uns sehr.«
»Dann seid ihr gekommen, um uns zu feiern?«
»Zu diesem Zweck nicht«, antwortete O'Gillicuddy, »obwohl wir es liebend gerne täten, sondern weil wir glauben, daß wir dazu imstande sind, euch ein bißchen Beistand zu leisten.«
»Für jede Hilfe, die jemand uns geben kann, sind wir dankbar«, versicherte Cynthia.
»Es euch zu erklären, wird schwierig sein«, sagte O'Gillicuddy, »und da wir selbst mit den Tatsachen nicht vertraut sind, müßt ihr euch wohl oder übel darauf beschränken, uns Glauben zu schenken oder nicht. Aufgrund unserer Beschaffenheit besitzen wir keinen so engen Kontakt mit dem materiellen Universum wie ihr, doch anscheinend verfügen wir über eine begrenzte Kraft, um auf Raum und Zeit einzuwirken, eine Macht, die weder Bestandteil des materiellen Universums ist noch ganz außerhalb des Universums.«
»Halt, einen Moment bitte«, sagte ich. »Wovon redest du ... ?«
»Glaubt mir«, sagte O'Gillicuddy, »unsere physischen Kräfte existieren schon längst nicht mehr. Wir können euch nicht auf andere Weise helfen, aber ...«
»Ihr habt vor«, meinte Cynthia, »uns durch die Zeit zu bewegen?«
»Nur um eine geringfügige Zeitspanne«, sagte O'Gillicuddy. »Um einen winzigen Sekundenbruchteil. Nicht mehr als bloß fort aus der Gegenwart. Doch das würde schon genügen.«
»So etwas ist noch nie versucht worden«, wandte Cynthia ein. »Jahrhundertelang hat man diesbezügliche Forschungen und Studien betrieben, aber alle sind ergebnislos geblieben.«
»Habt ihr es schon einmal gemacht?« erkundigte ich mich.
»Nein«, entgegnete O'Gillicuddy. »Aber wir haben viel darüber nachgedacht und Spekulationen angestellt, und wir sind ziemlich sicher ...«
»Aber nicht absolut sicher?«
»Du hast recht«, bestätigte O'Gillicuddy. »Nicht ganz sicher.«
»Und falls es gelänge«, fragte ich, »wie kämen wir zurück? Ich habe keine Lust, für den Rest meines Lebens um einen Sekundenbruchteil hinter dem gesamten Universum zurückzubleiben.«
»Auch daran haben wir gedacht«, erklärte das Gespenst erheitert. »Wir errichten am Zugang dieser Felsspalte ein Zeittor, das ihr beidseitig durchschreiten könnt...«
»Aber darin seid ihr euch auch nicht sicher?«
»Nun, jedenfalls ziemlich sicher«, antwortete O'Gillicuddy.
Ich hielt das Angebot keineswegs für allzu vielversprechend, und obendrein besaßen wir keine Gewißheit, daß alles der Wahrheit entsprach. Möglicherweise wollten O'Gillicuddy und seine Gespensterhorde uns lediglich dazu überreden, die Versuchskaninchen für irgendwelche von ihnen ausgebrütete Experimente zu spielen. Und wie konnten wir - die Frage stellte sich unvermeidlich - überhaupt sicher sein, uns unter Gespenstern zu befinden? Zuvor hatten wir sie gesehen, in der Ansiedlung, als sie beim Volkstanz erschienen - oder hatten geglaubt, sie zu sehen. Doch im Moment konnten wir uns nur auf die Worte des Volkszählers stützen und auf diese Stimme, die - so schien es - O'Gillicuddy gehörte.
Aber vernahmen wir wirklich O'Gillicuddys Stimme? Oder handelte es sich bloß um Einbildung, um eine Wahnvorstellung, wie vielleicht auch die Gespenstergestalten beim Tanz reiner Wahn gewesen waren, oder jene, die wir in der Höhle zu sehen geglaubt hatten, als sie sich erstmals an uns zu wenden schienen? Cynthia hörte die Stimme so gut wie ich; auf jeden Fall benahm sie sich so. Womöglich bildete ich mir bloß ein, sie würde die Stimme ebenfalls hören. Die Situation war teuflisch, denn sie zwang dazu, nicht bloß die Realität der Umgebung in Frage zu stellen, sondern auch die eigene.
»Cynthia«, fragte ich, »hörst du wirklich diese ...?«
Das Feuer explodierte. Glut, Asche und schwelendes Holz flogen durch die Felsspalte und uns um die Ohren. Draußen ertönte ein dumpfer Knall, dem ein zweiter folgte, und etwas klatschte hinter uns an die Felswand.
Wir sprangen auf die Füße, alle drei, und im gleichen Augenblick begann es zwischen den Felsen zu brodeln. Irgend etwas - was, das wußte ich nicht - wie eine Flutwelle überrollte uns, aber natürlich war es kein Wasser. Es rollte und wirbelte mit ungeheurer Gewalt zwischen den Felswänden.
Dann, ehe wir überhaupt eine Bewegung machen konnten, war es wieder fort. Das Brodeln und Wirbeln, was auch immer es gewesen sein mochte, hatte uns weder erfaßt noch überhaupt körperlich berührt, denn wir standen unverändert, ganz und gar unbeeinträchtigt; das heißt, wir beide standen dort.
Doch das Feuer und der Wolf waren nicht länger vorhanden. Keine Spur von ihnen war zu entdecken. Und statt Nacht war es draußen, außerhalb unseres Unterschlupfs, heller Tag. Ins Tal ergoß sich gleißender Sonnenschein.
18
Das Tal war verändert. Man vermochte es nicht auf den ersten Blick festzustellen, nicht zu sagen, dies ist nicht wie zuvor und das ist anders. Aber der Gesamteindruck unterschied sich vom vorherigen, und während wir unterm Zugang der Felsspalte standen, fielen die Unterschiede uns allmählich auf.
Die Bäume waren kleiner, und es waren weniger. Auch war es nicht Herbst, denn sie waren alle grün. Das Gras wirkte ebenfalls anders, nicht so saftig, nicht so tiefgrün, sondern eher gelblich.
»Sie haben es getan«, flüsterte Cynthia. »Sie haben es ohne unser Einverständnis getan.«
Ich stand reglos und überlegte, ob alles bloß ein Hirngespinst sein konnte, so wie alles, was mit O'Gillicuddy zusammenhing. Ich hoffte es sogar, denn wenn das eine ein Hirngespinst war, mußte es sich beim ändern auch um eins handeln.
»Aber er hat doch von einem Sekundenbruchteil gesprochen«, sagte Cynthia, »und daß er ausreiche. Nur eine winzige Zeitspanne, um uns vor der Gegenwart zu schützen. Die Zeit, die man zu einem Wimpernzucken braucht, hätte genügt.«
»Sie haben uns hereingelegt«, sagte ich. »Sie haben uns ganz hinterhältig hereingelegt.«
Ich wußte nun, daß ich nicht fantasierte. Man hatte uns durch die Zeit gestürzt, und zwar um einen wesentlich größeren Zeitraum als bloß einen Sekundenbruchteil, entgegen O'Gillicuddys Zusicherung.
»Sie hatten es noch nie gemacht«, ergänzte ich, »und waren sich noch nicht einmal dessen sicher, ob es überhaupt gelingen würde. Dies war ihr erstes Experiment, und diese elenden Narren haben es verdorben.«
Wir traten ins Tal, ins grelle Sonnenlicht hinaus, und ich warf einen Blick empor zur Höhe des Felsen. Da wuchsen keine Zedern.
Ich empfand Zorn. Es gab keine Möglichkeit, um zu ermitteln, wie weit man uns zurück in die Vergangenheit geschleudert hatte, mindestens jedoch bis in die Zeit, als die Zedern noch nicht ihre Wurzeln ins Gestein gegraben hatten. Und wenn ich mich recht entsann, brauchten Zedern sehr viel Zeit zum Wachsen. Einige jener Zedern mußten seit Jahrhunderten dort gestanden haben.
Wieder das gleiche, dachte ich. Zuvor, in unserer Gegenwart, waren wir räumlich in die Irre gegangen, und nun war uns das gleiche in der Zeit widerfahren. Und die Rückkehr war ungewiß. O'Gillicuddy hatte von einem Zeittor gesprochen, aber falls er davon soviel verstand wie vom Verschieben von Materie in der Zeit konnten wir darauf so gut wie keine Hoffnung setzen.