»Woher hast du die Pfannen?« fragte Cynthia. Was für eine blödsinnige Frage! Was glaubte sie wohl, woher ich sie hatte?!
»Kann man sie hier irgendwo abwaschen?« erkundigte ich mich. »Siehst du eine Pumpe oder so etwas?«
»Dort unten, hinter dem Garten, fließt ein Rinnsal. Wahrscheinlich ist eine Quelle in der Nähe.«
Ich blieb sitzen. Mit einer Hand wischte ich mir übers Kinn, und als ich sie senkte, klebte Erbrochenes daran. Ich reinigte sie im Gras.
»Fletch?«
»Ja?«
»Ist im Haus ein Toter?«
»Seit Tagen tot«, sagte ich. »Schon lange tot.«
»Und was machen wir jetzt?«
»Was meinst du damit: Was machen wir jetzt?«
»Ich meine, sollen wir ihn begraben oder so etwas?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht hier. Nicht jetzt. Was machte es für einen Unterschied? Sicher hat er es ohnehin nicht erwartet.«
»Was ist mit ihm geschehen? Konntest du feststellen, woran er gestorben ist?«
»Nein«, antwortete ich.
Sie beobachtete mich, während ich mich unsicher aufraffte.
»Komm, laß uns das Geschirr waschen«, schlug ich vor. »Außerdem möchte ich mein Gesicht säubern. Dann nehmen wir aus dem Garten Gemüse ... «
»Irgend etwas stimmt doch da nicht«, sagte sie lauernd. »Es ist nicht bloß ein Toter.«
»Du hast gesagt, wir müßten herausfinden, wann wir sind. Ich glaube, ich habe es herausgefunden.«
»Du meinst, der Tote ...?«
»Er war ein Monster«, unterbrach ich. »Ein Mutant. Ein Mann mit zwei Köpfen. Ein zweiköpfiger Mann.«
»Dennoch begreife ich nicht ...«
»Das bedeutet, daß wir uns Jahrtausende in der Vergangenheit befinden. Wir hätten es uns ausrechnen sollen. Weniger Bäume, gelbes, kränkliches Gras. Die Erde erholt sich gerade erst vom Krieg. Ein Mutant wie dieser zweiköpfige Mann besaß keine Überlebensaussicht. In der Zeit nach dem Krieg muß es viele solche Geschöpfe gegeben haben, viele Mutanten. Tausend Jahre später dürften sie alle verschwunden sein. Und doch liegt einer dort im Haus.«
»Bestimmt irrst du dich, Fletch.«
»Ich hoffe, daß ich mich irre«, erwiderte ich. »Aber ich bin nahezu davon überzeugt, daß ich recht habe.«
Ich weiß nicht, ob ich rein zufällig hinüber zu der bedrohlichen hohen Bergkette blickte oder ob eine auffällige Bewegung meine Aufmerksamkeit erregte, aber ich schaute dorthin, und sah etwas huschen, als liefe dort jemand; nun, es lief nicht buchstäblich, denn ich erspähte keine Beine, aber etwas huschte dort oben entlang, ein kegelförmiges Ding, und zwar sehr schnell. Ich erblickte es nur für einen Moment, dann war es außer Sicht. Doch ich konnte mich unmöglich getäuscht haben. Ich wußte, daß ich mich nicht getäuscht hatte.
»Hast du das auch gesehen, Cynthia?«
»Nein«, entgegnete sie. »Ich habe nichts gesehen. Was hätte ich sehen sollen?«
»Den Volkszähler.«
»Ausgeschlossen«, sagte sie. »Auf jeden Fall, wenn wir uns in so ferner Vergangenheit befinden wie du annimmst. Es sei denn ...«
»Genau«, meinte ich. »Es sei denn ...«
»Denkst du das gleiche wie ich?«
»Das würde mich nicht überraschen. Der Volkszähler könnte dein Unsterblicher sein.«
»Aber das Memorandum erwähnt den Ohio.«
»Das weiß ich. Aber überlege einmal. Dein Vorfahr, als er den Text niederlegte, war ein steinalter Mann. Er vertraute seinem Gedächtnis, aber das Gedächtnis ist trügerisch. Vielleicht hatte er bei irgendeiner Gelegenheit einmal etwas vom Ohio gehört. Möglicherweise hatte sein Großvater wirklich den Namen genannt. Doch womöglich meinte er gar nicht den Fluß, sondern die Gegend, durch welche dieser Fluß fließt. Der Vorfall muß sich keineswegs am Fluß namens Ohio abgespielt haben. Nach so vielen Jahren könnte dein Vorfahr allerdings leicht zu der irrigen Auffassung gelangt sein, es sei dort gewesen.«
Erregt sog sie den Atem ein. »Alles paßt«, sagte sie. »Alles paßt zusammen. Hier ist ein Fluß. Dort sind Berge. Genau hier könnte es geschehen sein.«
»Falls es nicht am Ohio war«, argumentierte ich ungerührt weiter, »falls er den Namen mißverstanden hatte, kommen tausende solcher Stellen in Frage. Ein Fluß und ein paar Berge. Keine sonderlich nützliche Beschreibung, oder?«
»Aber es heißt doch, sein Großvater sei einem Menschen begegnet. Einem Mann.«
»Er soll wie ein Mensch ausgesehen haben, wie ein Mann, ja, aber der Großvater spürte, daß es sich nicht um einen Menschen handelte. Er spürte das Fremde, das Nichtmenschliche. Jenes Wesen, dessen Nichtmenschlichkeit er zunächst bemerkt hatte, kann ihm später, in der Erinnerung, durchaus als menschlich erschienen sein.«
»Hältst du das für möglich?«
»Ich nehme es an«, sagte ich.
»Falls das eben der Volkszähler war, warum sollte er sich vor uns verbergen? Er muß uns doch erkannt - nein, das stimmt nicht.
Natürlich könnte er uns nicht kennen. Wir sind ihm noch nicht bekannt. Bis dahin verstreichen noch Jahrhunderte. Glaubst du, wir würden ihn finden?«
»Wir können es versuchen«, meinte ich.
Langsam erstiegen wir den Hang. Die Pfannen vergaßen wir. Vergessen waren das Gemüse, der Garten. Der Hang war steil und unwegsam. Wir mußten dichten Wald und Gesträuch durchqueren. Mächtige Felsbrocken versperrten uns den Weg. Wir konnten sie nicht überklettern, sondern muß-ten sie umgehen. Stellenweise war der Hang so steil, daß wir uns an Ästen und Sträuchern emporziehen mußten. Manchmal krochen wir auf Händen und Knien.
Unterwegs, während wir kletterten, stellte sich mir aus der Ferne, aus dem hintersten Winkel meines Bewußtseins die Frage, wieso wir es eigentlich so eilig hatten, was denn so dringlich sei, daß wir nun ohne Atempause den Hügel erklommen. Falls droben tatsächlich das Haus des Unsterblichen stand, hätten wir uns Zeit lassen können. Es würde wohl kaum verschwinden, bevor wir den Gipfel erreichten. Stand es nicht dort, war die Mühe sowieso vergeblich. Und war es wirklich der Volkszähler, den wir suchten, konnte er bereits unauffindbar versteckt oder weit fort sein.
Aber wir kletterten weiter, setzten die Strapaze fort; endlich wuchsen Bäume und Büsche spärlicher, und dann betraten wir die kahle Bergkuppe. Mitten darauf stand ein Haus - ein vom Wetter gezeichnetes Haus, dem man sein Alter ansah, aber in keiner Weise vergleichbar mit jenem, worin wir den Toten gefunden hatten. Ein sauberer, erst kürzlich weiß gestrichener Lattenzaun schloß es ein. Neben der Haustür erhob sich ein Baum, der in rosafarbener Pracht blühte, und am Zaun entlang wanden sich Rosen.
Wir sanken erschöpft zu Boden und keuchten. Wir hatten gewonnen. Das Haus war vorhanden.
Als wir durchs Gartentor traten, erblickten wir unter der Tür einen Mann, der uns erwartete.
»Ich fürchtete schon«, sagte er, »Sie hätten es sich anders überlegt und wollten doch nicht kommen.«
»Das tut uns leid«, versicherte Cynthia. »Wir sind aufgehalten worden.«
»Das ist nicht schlimm«, antwortete der Mann. »Das Essen steht erst seit wenigen Minuten auf dem Tisch.«
Er war hochgewachsen, hager und gekleidet in eine dunkle Hose und eine hellere Jacke. Sein Hemd war weiß, der Kragen nicht zugeknöpft. Sein Gesicht war tiefbraun, das Haar schlohweiß, und er besaß einen angegrauten Schnurrbart, gepflegt und sorgsam gestutzt.
Alle drei gingen wir ins Haus. Der Raum, den wir betraten, war klein, aber außerordentlich liebevoll eingerichtet. An einer Wand stand ein Side-board mit einem Krug darauf. In der Mitte stand ein Tisch mit einem weißen Tischtuch, gedeckt mit Silber und funkelndem Kristallglas. An den Wänden hingen Gemälde, und den Boden bedeckte ein knöcheltief flauschiger Teppich.