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Wir kamen an den Fluß; anscheinend war es der gleiche, doch an seinem Ufer wuchsen keine Bäume mehr. Sie waren fort, den Grabsteinen gewichen und der Landschaftsgestaltung, die den Friedhof auszeichnete.

Ich blickte über das Wasser und dachte daran, wie manches, allen Geschehnissen zum Trotz, die Zeit überdauerte. Der Fluß strömte noch immer, wand sich zwischen den Hügeln dahin durch das Land, und es gab niemanden, der ihm Einhalt gebieten oder seine Gewalt mindern konnte.

Cynthia ergriff meinen Arm.

»Fletch, hat dort nicht das Haus des Volkszählers gestanden?« Sie war erregt.

Sie wies auf die Hügel, und als ich in die Richtung schaute, wohin sie deutete, hielt ich vor Überraschung die Luft an. Dabei gab es eigentlich nichts, das einem normalen Menschen den Atem verschlagen hätte, ausgenommen vielleicht die vollkommene Schönheit der Friedhofslandschaft. Was mir den Atem nahm, dessen bin ich sicher, war das Gesamtausmaß der Veränderung. Noch vor Stunden (nach unserer persönlichen Zeitrechnung) hatten wir alles anders vorgefunden. Hier war eine Wildnis gewesen; Urwald hatte sich bis hinab zum Fluß erstreckt, ein Blätterdach, unter dem das Haus, worin der Tote lag, kaum sichtbar war, und kahle Bergkuppen schienen den Himmel zu stützen. Jetzt sah alles sehr sauber und grün und zivilisiert aus, und auf dem Gipfel, wo das kleine, von der Witterung gezeichnete Haus gestanden hatte, in dem wir mit unserem reizenden Gastgeber bei Tisch saßen, er hob sich nun ein Bauwerk, das aus einem Traum zu stammen schien. Es bestand ganz aus weißem Stein und wirkte dabei so zierlich und zerbrechlich, als komme Stein als Baumaterial gar nicht in Frage. Talwärts waren der Frontseite drei Säulenvorbauten vorgelagert. Die zauberhaften Pfeiler wirkten aus der Entfernung dünn wie Bleistifte. Hohe Fenster, in denen das Licht sich in allen Farben brach, und die sich über die gesamte Länge des Hauses erstreckten, vervollständigten die märchenhafte Schönheit des Anblicks.

»Glaubst du ...?« begann Cynthia und verstummte mitten im Satz.

»Nein«, sagte ich. »Nicht der Volkszähler. Er würde nie einen solchen Palast bauen.«

Denn der Volkszähler hielt sich im Verborgenen, schlich emsig umher, ging heimlich um; er war stets in Eile, tat alles, um sich fremden Blicken zu entziehen, sammelte überall die begehrten kleinen Artefakte, welche die Geschichte jener erzählen würden, vor denen er sich zu verbergen pflegte.

»Aber es war hier. Sein Haus hat hier gestanden.«

Eine lange Treppe führte vom Haus bis hinab zum Fluß. Wir gingen ohne Hast am Ufer entlang; unsere Blicke ruhten auf der Bergkuppe. Schließlich erreichten wir einen kleinen, mit großen Steinplatten gepflasterten Platz, wo die Treppe ihren Anfang nahm. An einigen Stellen hatte man Freiräume für Pflanzen gelassen, für - wie hätte es anders sein können - Eiben und Immergrün.

Wie zwei verängstigte Kinder, denen ein Wunder widerfuhr, standen wir Seite an Seite und blickten die Treppe hinauf, nach der Herrlichkeit auf der Anhöhe.

»Weißt du, woran mich das erinnert?« meinte Cynthia. »An die Himmelsleiter.«

»Wie das? Du hast doch noch nie eine Himmelsleiter gesehen.«

»Nun, diese Treppe sieht so aus, wie die Alten den Aufgang zum Himmel beschrieben haben«, sagte sie fröhlich.

Ich begriff nicht, was sie so frohen Herzens stimmte. Ich war bei weitem zu stark außer Fassung geraten und verwundert, um auch nur im mindesten unbeschwert sein zu können. Wollte man sich in unserer Situation unbedingt an Schönheit erfreuen, nun gut, der Anblick, der sich uns bot, war zweifellos schön; doch er behagte mir nicht, vornehmlich aus dem Grund, weil dort oben, wo nun dieses Bauwerk prunkte, zuvor das Haus des Volkszählers gestanden hatte. Die Schlußfolgerung, daß zwischen dem Prunkbau und dem Haus ein Zusammenhang bestand, lag selbstverständlich nahe, aber diesen Zusammenhang herzustellen, das wagte ich vorerst nicht.

Die Treppe war sehr lang und ziemlich steil; sie zu ersteigen, kostete uns einige Zeit. Wir hatten die Treppe ganz für uns, denn weit und breit war niemand zu sehen, obgleich wir vor einem Weilchen unter einem der Säulenvorbauten drei oder vier Personen bemerkt hatten.

Oben mündeten die Stufen auf einen weiten Vorplatz, wesentlich größer als der Platz am Ufer, am Fuß des Berges. Wir überquerten ihn in Richtung auf den mittleren Säulenvorbau. Aus der Nähe war das Gebäude noch schöner als aus der Ferne. Der Stein war schneeweiß, die Architektur feinfühlig, ausgewogen und gediegen; das ganze Gebäude besaß so etwas wie eine Aura, die Ehrerbietung erweckte. Nirgendwo sah ich eine Schrift eingemeißelt, die verraten hätte, worum es sich bei dem Bauwerk handelte, und ich ertappte mich bei der unehrerbietigen Überlegung, wozu es überhaupt dienen möge.

Der Säulenvorbau erweiterte sich zu einem Foyer, in dem erstarrt jenes Halbdunkel hing, das man in Museen oder Gemäldegalerien findet. Im Mittelpunkt stand eine gläserne Vitrine; auf den Gegenstand, den sie enthielt, fiel helles Licht. Am Eingang standen zwei Wächter; wenigstens vermutete ich, daß es welche waren, denn sie trugen Uniformen. Tief aus dem Innern des Gebäudes hallten die gedämpften Geräusche von Schritten und Stimmen.

An der Vitrine blieben wir stehen, und darin stand der Krug, den wir beim Mittagessen gesehen hatten. Es mußte jener Krug sein.

Kein anderer Krieger konnte sich so niedergeschlagen auf seinen Schild stützen, kein gebrochener Speer konnte in solch unnachahmlicher Geste der Unterlegenheit auf den Boden weisen.

Cynthia hatte sich gebückt, um den Krug von unten zu betrachten und richtete sich nun auf. »Es ist dasselbe Töpferzeichen«, sagte sie. »Ich bin ganz sicher.«

»Wie kannst du so sicher sein? Du kannst doch kein Griechisch lesen. Das hast du jedenfalls behauptet.«

»Und es stimmt, aber ich erkenne den Namen. Nikosthenes. Es muß heißen: >Nikosthenes hat mich gemacht.««

»Er kann eine ganze Menge davon hergestellt haben«, widersprach ich. Ich weiß nicht, warum ich Streit anfing. Ich weiß nicht, warum ich mich gegen die an Gewißheit grenzende Wahrscheinlichkeit wehrte, daß wir dort genau den Krug sahen, der im Haus des Volkszählers auf dem Sideboard gestanden hatte.

»Das hat er zweifellos getan«, antwortete Cynthia. »Er muß ein berühmter Töpfer gewesen sein. Aber in diesem Krug muß der Volkszähler ein Meisterstück erkannt haben, denn andernfalls hätte er nicht ausgerechnet ihn ausgewählt. Wahrscheinlich war er für irgendeinen großen Mann jener Zeit bestimmt...«

»Vielleicht für den Volkszähler.«

»Ja«, sagte sie. »Das könnte sein. Vielleicht für den Volkszähler.«

Ich war so mit dem Krug beschäftigt, daß ich nicht bemerkte, wie sich einer der Wächter näherte und neben mich trat. Plötzlich sprach er mich an.

»Ich vermute, Sie sind Fletcher Carson. Habe ich recht?«

Ich richtete mich auf und musterte ihn. »Ja, der bin ich«, erwiderte ich. »Aber woher wissen Sie ...«

»Und die Dame in Ihrer Begleitung ist Miß Lansing?«

»Ja, die ist sie.«

»Ich wäre höchst erfreut, wenn Sie beide mit mir kämen.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte ich. »Warum sollen wir mit Ihnen gehen?«

»Ein alter Freund würde sich sehr gerne mit Ihnen unterhalten.«

»Unsinn«, meinte Cynthia. »Wir haben keine Freunde. Wenigstens hier haben wir keine Freunde.«

»Es wäre mir sehr peinlich«, sagte der Wächter unverändert freundlich, »darauf bestehen zu müssen.«

»Vielleicht ist es der Volkszähler«, meinte Cynthia.

»Ein kleiner Kerl mit dem Gesicht einer Stoffpuppe und einem kleinen Mund?« fragte ich den Wächter.

»Nein«, antwortete der Wächter. »So sieht er ganz und gar nicht aus.«

Er wartete beharrlich; also umrundeten wir die Vitrine und folgten ihm. Er führte uns durch einen Korridor, an dessen Wände weitere Schaukästen und Tische standen; zahlreiche Ausstellungsstücke waren hier aufgebaut und sorgfältig gekennzeichnet, aber wir schritten so eilig den Korridor hinab, daß ich keine Gelegenheit erhielt, auch nur eins davon näher zu betrachten. Ein paar Meter voraus stand der Wächter bereits vor einer Tür und klopfte. Eine Stimmte forderte zum Eintreten auf.