«Heiliger bimbam!«
Wir drehten eine Schleife, stiegen bis über die Spitze des schneeweißen Turmes in die Höhe, gingen in Schräglage, um auf den brodelnden Gipfel hinunterzuschauen, den niemand auf der Welt vorher gesehen hatte oder jemals sehen würde, und flogen danach am steilen Abhang vorbei. Wir waren ungewöhnliche Skiläufer, die in 7000 Fuß Höhe dahinschwebten und dann am äußersten Rand jäh in die Tiefe sausten.
«Los, daisy!«
Unglaublich, dachte ich. Er ist ein kleines Kind!
«Über das Gebirge!«befahl er.»Dorthin, wo noch kein Mensch hochgeklettert ist.«
Ich achtete auf unsere Sicherheit, indem wir in Reichweite eines Notlandeplatzes blieben, für den Fall, daß beide Triebwerke aussetzten. Im Augenwinkel überwachte ich Tankuhr, Öldruck und Triebwerktemperatur.
Er spähte durch die Windschutzscheibe und ließ Daisy fliegen.
Unter uns hoben sich oberhalb der Baumgrenze kobaltblaue Gebirgsseen von den hohen Schneefeldern ab. Nicht eine einzige Straße, nicht ein einziger Wanderweg, nicht ein einziger Baum waren zu sehen. Nur scharfkantige Berggipfel aus Granit, riesige steinerne Platten und Mulden, die vor Schneeflocken überquollen, und kleine himmelblaue Flüsse, die wild ins Leere stürzten.
«ein bär! Richard, schau nur, schau! ein bär!«
Ich wußte, daß Bären so weit oben in den Bergen normalerweise nichts zu suchen hatten. Aber das ist die Denkweise der Erwachsenen, die alles der Vernunft unterordnen und die Grizzlys da unten einfach ignorieren.
Der Bär stand auf den Hinterbeinen, vermutlich sog er schnüffelnd die Luft ein, als wir auf ihn zuwirbelten.
«Dickie, du hast vollkommen recht! Ein Bär!«
«Er winkt!«
Dickie wippte mit den Tragflächen, um den Gruß zu erwidern, und im nächsten Augenblick rasten wir über den Gebirgskamm hinweg. Wir tauchten in ein Tal ein, ich und das Kind, das ich einmal gewesen und das zum ersten Mal in seinem Leben wirklich und wahrhaftig flog.
Eine Stunde später landeten wir und rollten zurück zum Hangar. Dickie löste sich von mir, und ich sah ihn wieder in seinem Körper. Er konnte es kaum erwarten,
aus dem Cockpit zu klettern und Daisy von außen zu betrachten. Er öffnete die Einstiegluke, sprang hinab und strich mit den Händen über das Flugzeug, als ob es nicht genügen würde, es aus kurzer Entfernung in Augenschein zu nehmen.
Ich stieg hinab und beobachtete ihn einen Moment lang.»Was siehst du da?«
«Dieses Metall«, sagte er,»dieses bemalte Metall hier ist in einer Wolke gewesen! Über dem höchsten Berg! Fühl doch mal selbst!«
Es war, als ob noch immer ein Zauber an Daisys Haut haftete, und Dickie wollte, daß nicht ein Hauch davon verlorenging. Auch ich spürte diese Magie.
«Vielen Dank, Daisy«, sagte ich nach gutem altem Brauch.
Dickie rannte um das Flugzeug herum, umarmte den Propeller des vorderen Triebwerkes und küßte dessen glänzende Haube.»Ich danke dir, Daisy, für einen wunderbaren, schönen, glücklichen, großartigen, schönen, wunderbaren, wunderbaren, wunderbaren Flug. Du bist ein schönes, großes, elegantes, schnelles, wunderbares Flugzeug, ich liebe dich!«
Was machte es da schon, daß Daisys glänzender Lack mit Fingerabdrücken und Kußflecken verunziert war. Nun wußte ich wieder, was es bedeutete, zu fliegen.
11
Als ich nach Hause kam, saß Leslie am Computer und arbeitete. Sie hatte sich im Haus ein Zimmer als Büro eingerichtet, und als ich eintrat, blickte sie auf und lächelte.»Hallo, Liebling. Wie war der Flug mit Dickie heute?«
«Sehr schön«, erwiderte ich.»Und sehr interessant. «Ich stellte meinen Flugsack neben die Tür, drapierte meine Jacke auf einem Stuhl und sah in Ruhe die Post durch. Warum fiel es mir so schwer, ihr von diesem aufregenden Flug zu erzählen?
«Jeder Flug ist interessant«, bemerkte sie nach einer Weile.»Stimmt was nicht?«
Ich schüttelte den Kopf.»Gar nichts. Es ist einfach so… kindisch. Ich fühle mich wie ein Dummkopf, wenn ich darüber sprechen soll.«
«Richard, es muß auch auf kindlicher Ebene sein«, sagte sie mit Bestimmtheit.»Du hast schließlich auch ein Kind in dein Bewußtsein aufgenommen.«
«Und du wirst nicht glauben, ich sei verrückt, wenn ich dir davon erzähle?«
Sie lächelte.»Ich habe schon immer angenommen, daß du verrückt bist. Also enttäusch mich nicht.«
Ich lachte erleichtert und erzählte ihr, was geschehen war. Wie wunderbar es sich anfühlte, wenn man sich wieder auf seine Kindheit einließ, wenn man so tat, als ob man noch nie geflogen wäre und alles wie zum ersten Mal erlebte.
«Wunderbar, Liebling«, sagte sie zu mir.»Wie viele Menschen trauen sich das zu, was du heute getan hast? Ich bin stolz auf dich.«
«Aber es wird nicht endlos so weitergehen können. Was geschieht, wenn ich ihm vom Erwachsenendasein erzähle? Werden diese Dinge ihn bewegen? Themen wie Frauen, Ehe, Lebensunterhalt, Suche nach Werten — es gibt nichts Interessanteres, aber ich fürchte, er wird bei diesen Stichworten gähnen und nach einer Eisdiele rufen. Ich habe sonst keinen Kontakt zu Kindern und habe ihnen wohl erst etwas zu sagen, wenn sie erwachsen sind.«
Sie runzelte einen Moment lang nachdenklich die Stirn.»Hat er vielleicht die Eigenschaften, die du dir selbst immer zuschreibst? Unwissend in den meisten Dingen, aber sehr intelligent? Wenn er möchte, daß du in einem Buch für ihn all die Sachen schreibst, die du in fünfzig Jahren gelernt hast, dann hat er wahrscheinlich größere Ambitionen als die Eisdiele um die Ecke.«
Ich nickte wortlos und erinnerte mich daran, wie es war, als ich er gewesen bin… Ich wollte über alles genau Bescheid wissen — ausgenommen Geschäftsleben, Politik und Medizin — Dinge, mit denen ich mich jetzt wohl oder übel auseinandersetzen mußte.
Ich grübelte einen Moment lang — warum wollte ich gerade diese Themen ausklammern? Heute öden sie mich an, weil sie sich um gesellschaftliche Verpflichtungen drehen, und es gibt nichts Langweiligeres, als mit Leuten, die das eigentlich nicht wollen, einen Konsens finden zu müssen. Er fühlte wahrscheinlich das gleiche. Vielleicht hatten wir mehr Gemeinsamkeiten als unsere Vergangenheit und lagen unsere Wertmaßstäbe näher beieinander, als wir wußten? Wie hatte er zu der Person beigetragen, die ich heute war? Welche Werte hielt er hoch? Ich starrte auf den Teppich. Ein Neunjähriger mit Werten? Laß dich nicht von deinen Gedanken wegreißen, Richard!
Leslie bemerkte, wie ich mehr und mehr in Gedanken versank, und wandte sich wieder ihrem Computer und ihrer Arbeit zu.
Er möchte gern wissen, was ich weiß. Wissen zu erklären ist leicht, aber hinter den Einzelheiten stecken keine Gefühle, es gibt einfach nicht genug zu fühlen. Ich bezweifle, daß er das ändern kann, aber was soll falsch daran sein, wenn ich Wissen vermittle und er lernt? Nichts spricht dafür, daß es auch umgekehrt funktioniert.
Leslie ließ ihre Blicke starr auf dem Monitor verweilen.»Und wo ist er jetzt?«
«Mal sehen. «Ich schloß meine Augen. Nichts. Keine Bilder, kein Kind, das ich einst gewesen. Nichtssagende, leere Dunkelheit.
«Liebling, klingt das jetzt sehr verrückt?«fragte ich Leslie nach einer Weile.»Er ist weg.«
12
Als ich mich in dieser Nacht aufs Bett warf und die Augen schloß, war der erste Ort, den ich erblickte, die Zelle in dem dunklen Verließ.
«Dickie!«rief ich in die Stille.»Es tut mir leid. Ich habe dich vergessen.«
Die schwere Tür war offen.»Hallo, Dickie!«
In der Zelle waren nur die Sitzbank, das Klappbett, der kalte Flammenwerfer. Jahrzehnte hatte er hier verbracht, weil ich nie meine Gefühle zugelassen habe, sondern sie immer hin- und herschob, während ihre Auslöser verblichen. Warum habe ich meine rationale Seite so stark betont? Warum mußte ich immer gleich so maßlos übertreiben? War ich mir meiner so unsicher?