Er nickte mir zu. Er wußte wohl nicht genau, worauf ich hinauswollte. Aber er blieb neugierig.
Ich fuhr mit meinem Bericht fort:»Aber Menschen mit hohen Nachnamen-Nummern sterben an unvermeidlichen Konstellationen, und es gibt kein Entkommen.
Mr. James Merkle, vierundachtzig Jahre alt, hat seinen Kampf gegen die Kreislauf schwäche letzte Woche verloren. Mrs. Anne Fisher-Stovall, siebenundneunzig, hatte ein zu labiles Herz für ihr Alter. Und Mr. Richard Bach, einhundertundfünfundvierzig Jahre alt, starb eines Tages unerwartet an hoffnungsloser Überalterung.«
Bei meinem letzten Beispiel lachte er laut auf. 145 Jahre alt? Das war unmöglich.»Und weiter?«fragte er.»Was ist nicht in Ordnung mit Geburtstagen?«
«Ganz einfach«, antwortete ich ihm.»Wenn die Zahl klein ist, weißt du genau, daß du noch nicht sterben mußt. Aber wenn die Zahl groß ist…«
«… dann mußt du sterben.«
«Hohe Nachnamen-Nummern bedeuten baldigen Tod«, sagte ich zu ihm und grinste. Aber dann wurde ich wieder ernst.»Man nennt es ›gutgläubig‹, wenn du einer Sache zustimmst, bevor du richtig darüber nachgedacht hast. Wenn du einer Sache hinterherläufst, nur weil man es von dir erwartet. Das passiert dir tausendfach, wenn du nicht aufpaßt.«
«Und gutgläubig zu sein ist schlecht?«fragte er und sah mich nachdenklich an.
«Nicht in jedem Fall. Vielleicht ist nur der Weg schlecht, der zu ihm führt, aber der Glaube ist richtig. Wir müssen irgendeine Form von allgemeinen Werten akzeptieren, wenn wir in einem Gemeinwesen leben wollen, sonst schweben wir im luftleeren Raum. Und irgendwann müssen wir anfangen, etwas zu glauben, sonst werden wir immer älter und können nicht sterben.«
Das Thema ›Sterben‹ mochte er ganz offensichtlich nicht.»Ich mag gern Geburtstagskuchen«, sagte er schnell.
«Eine Kerze für jedes Jahr. Ißt du die ausgepusteten Kerzen mit?«
Er verzog das Gesicht.»Nein.«
«Kuchen schmeckt auch ohne Kerzen viel besser. Iß den Kuchen und laß die Kerzen leuchten.«
Er nickte.»Ich mag Geschenke.«
«Vergiß die Geburtstage. Du kannst jeden Tag Geschenke haben, und zwar das ganze Jahr über.«
Einen Moment lang sagte er nichts und dachte über meine Worte nach. Wieso sollte man Geburtstage vergessen? Jeder, den er kannte, hatte einmal im Jahr Geburtstag.»Bist du doof?«fragte er dann.
Ich warf meinen Kopf in den Nacken und lachte. Erinnerungen stiegen in mir hoch. Früher bei uns zu Hause hatten wir nur geistige Werte hochgehalten. Das erste Wort, das ich als Heranwachsender lernte, hieß ›Wortschatz‹. Mutter lehrte mich in meinen ersten Schuljahren, zu Hause viel zu lesen, und ich fühlte mich dann ach-so-schlau, weil meine Eltern den Intellekt viel höher werteten als Gefühle. Emotionen mußten wir unterdrücken, der Verstand durfte ausufern.
Das Wort ›doof‹ durfte ich überhaupt nicht gebrauchen, das weiß ich noch genau. Ich kannte die Worte unlogisch, haarsträubend, nicht-verständlich, aber doof sagte man bei uns zu Hause nicht, das war unter Niveau, auch wenn es sehr treffend war. Nicht-verständliche-haarsträubende Unlogik, das durfte ich sagen, aber doof nicht. Irgendwie habe ich mich dann auch an diese Wortzusammenballungen gewöhnt; ich fand sie herrlich, meine Familie nicht unbedingt, weil sie den Sinn nicht immer verstand. Aber ich habe bis heute Spaß an diesen Wortmonstern.
«In gewisser Weise bin ich doof, Dickie. Wahnsinnig, verrückt, wie du willst. Aber in einer angenehmen Art und Weise, hoffe ich.«
«Du wolltest mir meine Geburtstage mit Kuchen und Geschenken wegnehmen«, sagte er verärgert.»Nennst du das vielleicht eine angenehme Art und Weise?«
Ich nickte ihm zu.»Ja. Weil du dich frei machen sollst von Konventionen. Ich habe mich von solchen Zwängen schon lange befreit.«
«Wieso?«sagte er überrascht.
«Wenn du nicht an Geburtstage glaubst, wird dir auch der Begriff des Alterns fremd. Es macht dir nichts mehr aus, ob du sechzehn Jahre alt bist oder dreißig, und du bekommst keinen Schock, wenn du fünfzig wirst oder noch älter. Du mißt dein Leben nur noch daran, was du lernst, und nicht daran, wieviele Blätter du auf dem Kalender bereits abgerissen hast. Wenn du schon einen Schock bekommen willst, dann doch lieber bei der Entdeckung der fundamentalen Grundlagen des Universums als bei irgendeinem Tag im Jahr, der sich dann auch noch Geburtstag nennt.«
«Die anderen Kinder werden auf mich zeigen: Guck mal da, der Junge ohne Geburtstag.«
Ich nickte ein wenig nachdenklich.»Das werden sie bestimmt. Aber es ist deine Entscheidung. Wenn du glaubst, daß es sinnvoll ist, zu zählen, wie oft du mit dem Planeten Erde um die Sonne gekreist bist, dann behalte deine Geburtstage, zähle die Stunden und Tage und bezahle wie jeder andere Mensch seinen Preis dafür.«
«Du manipulierst mich«, sagte er ernsthaft.
Ich schüttelte energisch den Kopf.»Ich manipuliere dich nur dann, wenn ich dich zwinge, deine Geburtstage aufzugeben und du aber daran glaubst und sie zählen willst. Wenn du sie nicht aufgibst, dann habe ich dich auch nicht manipuliert.«
Er sah mich sehr ernsthaft an, um mir klarzumachen, daß er nicht scherzte.»Bist du wirklich erwachsen?«
«Wie ist es denn mit dir«, gab ich sofort zurück.»Bist du denn wirklich ein Kind?«
«Es wird von mir erwartet, daß ich eins bin, aber ich fühle mich viel älter. Fühlst du dich wie ein Erwachsener?«
«Keineswegs«, sagte ich nur.
«Dann hast du also auch dieses merkwürdige Gefühl?«fragte er und schien erleichtert.»Wenn man jung ist, fühlt man sich so alt. Fühlt man sich dann also wieder jung, wenn man alt ist?«
«Also ich glaube, daß wir alterslos sind. Das merkwürdige Gefühl, jünger oder älter als der eigene Körper zu sein, verträgt sich nicht mit der allgemeinen Auffassung. Die besagt nämlich, daß unser Bewußtsein so alt sein muß wie unser Körper. Die Wahrheit ist, daß Bewußtsein überhaupt kein Alter hat. Das aber kann unser Verstand nicht mit sich und den Gesetzen des Universums in Einklang bringen. An dieser Stelle versagt er einfach. Und immer, wenn in uns der Verdacht hochkommt, daß unser Lebensalter und unser Bewußtsein nicht wie vorgeschrieben parallel verlaufen, jagen wir dieses Gefühl schnell zum Teufel und gehen wieder zur Tagesordnung über.«
«Und wenn wir nicht zur Tagesordnung übergehen?«wollte er von mir wissen.»Was ist dann die Antwort?«
«Mach das Leben nicht am Alter fest. Sag nicht, ›Ich bin sieben Jahre alt‹ oder ›Ich bin neunzig‹. Denn sobald du dir selber sagen kannst ›Ich bin alterslos‹, gibt es keine Widersprüche mehr, und das unheimliche Gefühl ist vorbei. Wirklich. Versuch es mal.«
Er schloß die Augen.»Ich bin ohne Alter«, flüsterte er, und wenig später lächelte er mich an.»Interessant.«
«Wirklich?«fragte ich neugierig.
«Es funktioniert«, sagte er stolz.
«Wenn unser Körper genau das abbildet, was wir über ihn denken«, erklärte ich ihm,»und wenn wir glauben, daß sein Zustand nur etwas mit unserer Vorstellungskraft und nichts mit dem Faktor Zeit zu tun hat — dann brauchen wir uns nicht mehr mit dieser Frage aufzuhalten, ob wir zu jung sind oder ängstlich oder zu alt.«
«Wer behauptet denn, daß der Körper ein genaues Abbild unserer Gedanken ist? Woher kommt eigentlich eine solche Idee?«