Ich seufzte auf.»Als Jesus sagte, ›Niemand kommt zum Vater, denn durch mich‹, meinte er mit ›mich‹ nicht den ehemaligen Zimmermannsgesellen, sondern ›mich‹ — der auf der Suche ist nach dem Geist in…«
«Richard«, sagte sie ruhig.»Bitte nicht!«
Ich hielt inne und blickte sie an. Ihr Lächeln war ungeschmälert, ihr Augen funkelten wie Sterne: Sie war viel hübscher, als ich gedacht hatte. Warum war mir das nicht gleich aufgefallen? Hatte meine Verärgerung sie vielleicht vorhin farblos gemacht? Während ich sie aufmerksam betrachtete, mußte sich die Straßenbeleuchtung geändert haben: Sie war nicht nur hübsch, sie war einfach schön.
Sie wartete geduldig, bis ihr meine volle Aufmerksamkeit gewiß war. Hatte sie sich vielleicht selbst geändert, überlegte ich mir, und war es gar nicht das Straßenlicht? Was ging hier eigentlich vor?
«Jesus hat nicht die Wahrheit, nach der du strebst«, sagte sie dann. Während ich überlegte, ob ich sie auch duzen sollte, sprach sie weiter.»Der Philosoph Laotse hat sie nicht und auch nicht der Schriftsteller Henry James. Was du heute nacht entdecken könntest, wenn du deine Augen wirklich öffnetest, um in mehr als nur in ein hübsches Gesicht zu blicken, ist… Was denn wohl?«
Sie sah mich an und wartete geduldig.
«Ich kenne dich, nicht wahr?«fragte ich sie dann.
Zum ersten Mal an diesem Abend runzelte sie unwillig die Stirn.»Du hast wirklich recht«, erwiderte sie.»Du kennst mich tatsächlich.«
Solange ich mich erinnern kann, ist es so gewesen. Jemand folgt mir, stößt mit mir zusammen, wenn ich um die Ecke biege, oder erscheint in der U-Bahn oder im Cockpit des Flugzeugs, um mich in irgendeiner Weise über irgendwelche fremden Dinge zu belehren.
Zuallererst habe ich geglaubt, diese Menschen wären irgendwelche Phantome, Gebilde meiner eigenen Phantasie —, und anfangs waren sie das auch. Doch bald mußte ich zu meiner Überraschung erleben, daß diese belehrenden Seelen sich plötzlich in dreidimensionale Sterbliche verwandelten, so wie ich einer war. Und sie waren genauso erschrocken, mich in ihren Abenteuern vorzufinden, wie ich darüber erschrocken war, sie unerwartet in meinem Leben auftauchen zu sehen.
Nach einer Weile konnte ich allerdings nicht mehr sagen, ob die Person, die über mich und meine Lektionen wachte, sterblich war oder nicht. Heute vermute ich einfach, daß es wirkliche Menschen sind — bis sie dann mitten im Satz verschwinden oder mich in andere Welten hinwegheben, um mir eine subtile Frage der Metaphysik zu veranschaulichen.
1
Letzten Endes ist es natürlich völlig egal, wer oder was sie sind. Manche Menschen sind einfach Engel, ohne die Höflichkeit zu haben, sich als solche vorzustellen. Andere habe ich jahrelang gekannt, bevor ich ihre weichen Federn bemerkte. Und wiederum andere, von denen ich geglaubt hatte, sie wären lebende Evangelien, haben sich als schlechte Propheten erwiesen.
Dieses Buch beschreibt die Geschichte einer dieser zahlreichen Begegnungen in den Raffinerien meiner Gedankenwelt. Und es erzählt, was ich daraus gelernt habe und wie dieses Wissen mein Leben verändert hat.
Stimmen meine Lehren mit Ihren Erfahrungen überein? Bin ich ein feuerversengter Kumpel von der Rennbahn, auf der auch Sie fahren? Oder bin ich ein sonderbarer Fremder, der einsam murmelnd durch die Straßen irrt? Manche der Antworten werde ich niemals finden.
Jetzt müssen wir uns aber beeilen, sonst kommen wir zu spät zum ersten Kapitel.
Ich stand auf dem Gipfel des Berges und beobachtete den Wind. Er streifte fern am Horizont sanft den See und wehte milde in meine Richtung. Zweitausend Fuß unter mir kippte er ein paar Rauchsäulen um, die aus den Kaminen aufstiegen, und er bewegte die smaragdgrünen Blätter an den Bäumen des Vorgebirges. Zierliche Windfahnen am Rande der Felswand flatterten im Rhythmus der vorbeistreichenden Aufwinde — zwei Minuten lang etwas träge, eine halbe Minute lang etwas lebhafter.
Es ist besser, wenn ich beim Absprung von der Felskante etwas Wind bekomme, entschied ich. Lieber noch eine Zeitlang auf einen Windstoß warten.
«Testest du heute oder ich?«
Ich drehte mich um und lächelte Ceejay Sturtevant an. Sie war zierlich, ging mir nur bis zu den Schultern. Ceejay hatte die Gurte ihres Paragleiters bereits am Körper festgezurrt, die Stiefel zugeschnürt und den Helm aufgeschnallt. Ein kleiner ramponierter Teddybär blickte als Maskottchen aus einer Tasche ihres Flugoveralls. Der Schirm, der geordnet neben ihr auf dem Boden lag, war ein Meer von Nylonfarben.
«Ich warte auf etwas mehr Wind«, sagte ich zu ihr.»Du kannst zuerst fliegen, wenn du möchtest.«
«Vielen Dank, Richard«, sagte sie mit einem Lächeln.»Ist sonst alles klar?«
Ich ging ein wenig beiseite.»Alles klar. «Sie wartete einen Moment und blickte prüfend zum Horizont. Dann rannte sie auf den steilen Abhang zu, und für einen Sekundenbruchteil schien es reiner Selbstmord zu sein, weil ihr Körper auf die Felswand zuraste. Und nur einen Augenaufschlag später entfaltete sich der Gleitschirm von einem toten Gewebe zu einem Wirbelwind aus grellem Gelb und neonfarbenem Pink. Eine gewebte Wolke schwebte über ihrem Kopf wie ein gewaltiger chinesischer Drache, der plötzlich aufgetaucht war, um sie vor dem tödlichen Fall zu retten.
Schon hatten ihre Füße den Abgrund erreicht, und sie rannte nicht mehr, sondern flog in der Luft und pendelte sich aus wie eine Katze im freien Fall — aber Ceejay hatte ihre Gurte, die sie an dem riesigen Flügel festhielten.
Ihr Mann beobachtete sie, als er sich in die Gurte seines Paragleiters hineinschnallte, und er rief begeistert:»Pack es an, Ceejay! Such uns den Aufwind!«
Der erste Flieger, der vom Berg weggleitet, erprobt die Windverhältnisse, die anderen beobachten seinen Flug, beten um aufsteigende Luftströmungen dicht bei den Hängen und einen Tag mit langen, erhebenden Flügen. Verfehlen die Gebete ihre Wirkung und bleibt die Luft ruhig, gleitet man langsam ins Tal und wandert wieder zum Gipfel empor. Oder man findet einen gutmütigen Autofahrer, der die Bergstraße nach oben chauffiert.
Der helle Schirm drehte sich und begann sich im Aufwind zu erheben. Der Jubel von uns sechs, die Ceejay beobachteten und ebenso fliegen wollten, brandete auf. Dann sank sie wieder Richtung Tal und glitt langsam davon. Ein Stöhnen und Aufatmen der Zuschauer. Vom Wetter her waren die Möglichkeiten vorhanden, auch wenn nur die geschicktesten unter uns es schaffen würden, noch eine halbe Stunde nach dem Start in der Luft zu verweilen.
Ich beobachtete Ceejay eine Zeitlang beim Fliegen. Dann erkannte ich eine Thermik, die sich auf den Berg zu
bewegte: Die Blätter schaukelten ein wenig, und danach kamen die Zweige in Bewegung, die Windwipfel wurden immer munterer im Aufwind. Es war Zeit zu fliegen.
Ich drehte meinen Rücken in den Wind, zog hart an den Gurten der Aufhängung, und dann schwang sich mein Gleitsegel vom Grab der Erde hinweg in ein luftiges Rauschen und prasselndes Flattern wie der Spinnaker eines Segelbootes, der sich in das Blau des Himmels hinein aufbläht.
Es war, als ob ich meine eigene Schäfchenwolke nach oben gezogen hätte, einen seidenweichen Regenbogen von Schirmende zu Schirmende, an denen zitronengelbe Wimpel flatterten, und die Luft pulsierte um mich herum, als ich durch die Brise glitt: keine Federn und kein Wachs — diese Flügel hätten Ikarus vor dem Fall bewahrt. Dreitausend Jahre zu spät für ihn, ging es mir durch den Kopf, aber rechtzeitig für mich.
Ich blickte hinein in meinen Regenbogen, kontrollierte die Leinen der Aufhängung und drehte dann mein Gesicht in den Wind.
Herrliches Leben. Ich schmiegte mich in die Gurte hinein, steuerte schräg zum Wind an den Rand des Abhangs, langsam, wie ein Taucher im Meer sich gegen das Wasser lehnt, das ihn trägt. Und dann schwang ich mich in die Luftströmung weiter weg vom Hang, und mein Regenbogen hob mich — wir glitten langsam über den Wipfeln der Bäume dahin.