Dickie machte eine beschwichtigende Geste.»Richard, ich bin doch noch ein Kind…«
«Egal«, brummte ich, während wir unseren Aufstieg fortsetzten.»Das ist doch ein Beispiel. Erinnere dich, wer du bist, und handle danach. Wieso gibt sich ein Wesen von den Sternen mit Dingen ab, die einen Dreck wert sind?«
Er lächelte mich an.»Würde es dich so aus dem Häuschen bringen, wenn ich zum Trinker würde?«
Ich sah ihn erschrocken an.»Dickie?«
«Sagen wir, ich erweise mich als ein zigarettenqualmender, pillenschluckender, fahnenschwingender, auf die Bibel pochender Macho, Partylöwe, Schürzenjäger und Trunkenbold. Würde dich das beunruhigen?«
«Wenn du dich für sowas entscheidest, Kapitän, werden nur wenige Frauen etwas von dir wissen wollen. Du kannst also den Schürzenjäger streichen.«
«Nehmen wir mal an, ich hätte mich dazu entschlossen«, erwiderte er.»Was würdest du denken?«
Einen Moment lang war ich aus der Fassung gebracht. War ich verärgert? Zorn ist immer Furcht, dachte ich, man fürchtet sich vor einem Verlust. Würde ich mich selbst verlieren, wenn er sich so entschied? Ich brauchte eine Sekunde, um mich zu beruhigen: Ich würde nichts verlieren. Es wären seine Wünsche, und es steht ihm frei, so zu leben, wie er möchte. Ich verlöre ihn, wenn ich es wagte, ihn zu zwingen, wenn ich versuchte, sowohl für ihn als auch für mich zu leben. Das wäre eine Katastrophe, die schlimmer wäre als ein Leben auf dem Barhocker.
Dieser Augenblick und dieser Gedanke genügten: Mein Ärger verflog, und ich entspannte mich wieder.
«Die einzigen Qualitäten, die dir abgehen«, sagte ich streng,»sind Urteilsvermögen und Selbstbeherrschung. Ich besitze sie und du eben nicht. Ansonsten bin ich der Meinung, daß du gleichwohl ein Recht darauf hast zu leben, wie du möchtest.«
«Du würdest nicht schlecht über mich denken?«
«Ich kann doch nicht über etwas enttäuscht sein, was ich nicht unter Kontrolle habe«, erwiderte ich.»Paß auf, Dickie. Übertrage mir die Verantwortung für dein Leben, befolge meine Anordnungen peinlich genau, denke und sage und tue nichts, was ich dir nicht sage. Dann bin ich für alles verantwortlich.«
«Ich werde nicht mehr Kapitän sein?«
«Nein«, entgegnete ich.»Ich übernehme das Kommando.«
«Ist der Erfolg garantiert?«
«Es gibt keine Garantien. Aber sollte ich dein Leben ruinieren, verspreche ich dir, daß es mir leid tun wird.«
Er blieb stehen.»Was? Du übernimmst das Kommando? Du triffst die Entscheidungen für mich? Ich befolge alle deine Anordnungen, und wenn du mein Schiff auf Grund setzt, versprichst du mir, daß es dir leid tun wird? Wenn mein Leben auf dem Spiel steht, dann will ich selbst das Ruder in die Hand nehmen. Vielen Dank!«
Ich lächelte ihm zu.»Langsam dämmert es dir, Kapitän.«
Als wir den Gipfel des Berges erreicht hatten, machte er an einer einfachen Bank halt. Ich konnte verstehen, warum er diese Stelle zum Ausruhen bevorzugte. Hier war er dem Traum vom Fliegen am nächsten.
«Eine schöne Aussicht«, sagte ich.»Ist es Frühling in deinem Land?«
Er lächelte scheu.»Das Frühjahr kommt langsam.«
Warum sage ich es ihm nicht direkt? dachte ich. Warum sage ich ihm nicht einfach, daß ich ihn liebe und ich sein Freund sein werde, solange ich lebe?
«Ich schätze, ein wenig Regen tut not«, bemerkte ich.
«Ein wenig«, nickte er. Er schaute in die Ferne, als ob er all seinen Mut zusammennehmen müßte. Dann wendete er sich mir zu:»Dein Land braucht auch Regen, Richard.«
«Kann sein. «Was meinte er damit? Es ist mir ein Vergnügen, ihm all das zu vermitteln, was ich gelernt habe, dachte ich, und zwar ohne eine Gegenleistung.
«Ich bin mir nicht sicher, was das für dich bedeutet«, sagte er,»aber wahrscheinlich sehr viel.«
Bevor ich fragen konnte, was er damit meinte, rüttelte er wie wild an der hölzernen Sitzbank, bis ihre Stützen im Erdboden abbrachen. Er gab mir das Brett, als ob er Moses eine verwitterte Tafel übergeben würde.
Es war keine Sitzbank, sondern eine Grabtafel. In das Holz waren weder Datum noch Inschrift geschnitzt. Nur vier Worte waren zu lesen:
Bobby Bach
Mein Bruder
Was ein halbes Jahrhundert dem Vergessen anheimgefallen war, kehrte wieder zurück.
23
«Wieso bist du so klug?«Mein Bruder blickte von seinem Buch auf, erwog den Altersunterschied von eineinhalb Jahren zwischen uns und sah mich prüfend an.»Was redest du da, Dickie? Ich bin gar nicht so klug.«
Ich dachte darüber nach, und er las weiter.
«Alle sagen, du seist klug, Bobby.«
Jeder andere Bruder wäre wütend geworden und hätte dem Siebenjährigen gesagt, er sollte sich verziehen. Doch aus irgendeinem Grund fühlte sich mein Bruder nicht gestört.
«Okay, sie haben recht«, sagte er.»Ich muß klug sein, denn ich muß vorausgehen und dir den Weg weisen.«
Wenn er jemanden aufzog, ließ er sich nichts anmerken.
«Hat Roy dir auch den Weg gewiesen?«
Er ließ sein Buch kurz sinken.»Nein. Roy ist fast erwachsen, und Roy ist anders. Ich kann keine Sachen konstruieren oder sie zusammenbauen. Ich kann nicht so gut zeichnen wie Roy.«
«Ich auch nicht.«
«Aber wir können zusammen lesen, nicht wahr?«Er rückte auf dem großen Sessel zur Seite.»Möchtest du nicht lesen üben?«
Ich kletterte auf den Sessel und nahm neben ihm Platz.»Bist du deswegen so klug, weil du so viel liest?«
«Nein, ich lese so viel, damit ich mehr weiß als du.
Wenn ich dir den Weg weisen soll, muß ich doch auch ein bißchen mehr wissen. «Er klappte das Buch auf seinem Schoß auf.»Ich hoffe bloß, du kannst dieses Buch noch nicht lesen! Du bist doch noch nicht so klug.«
Ich betrachtete die Seiten und lächelte.»O doch, ich bin…«
Er zeigte auf die Großbuchstaben.»Was heißt das?«
«Das ist leicht«, erwiderte ich.»kapitel dreizehn. jenseits des sonnensystems!«
«Gut! Dann lies mir den ersten Abschnitt vor. «Ein Kind konnte bei uns zu Hause viel Lob einheimsen, aber am ehesten wurde man gelobt, wenn man gut las,»mit Ausdruck«, wie Mom zu sagen pflegte. Man war dann ein vorbildlicher Sohn.
An jenem Tag las ich also meinem Bruder vor und bemühte mich, den Eindruck zu erwecken, als ob ich ihm das, was da über die Sterne stand, erzählte. Was sich mir aber tief einprägte, waren diese Worte, die ich für wahr hielt:»Ich muß dir den Weg weisen.«
Nach der Schule eilte ich nach Hause, flitzte durch das Gartentor und öffnete die Hintertür zur Küche. Mit ein bißchen Glück würde ich drei oder vier Scheiben Roggenbrot stibitzen. Sollte Mom mich dabei erwischen, konnte ich das Abendessen abschreiben.
Menschenskind… Dad ist aber zeitig von der Arbeit gekommen, und jetzt sitzt er mit Mom und Bobby in der Küche. Sie sprachen ruhig und ernst miteinander, als ob mein Bruder irgendein Gast und nicht ihr Sohn wäre. Das hatte es noch nie gegeben. Mein Vater, zeitig zu Hause?
«Hi, Daddy«, sagte ich, ohne mir anmerken zu lassen, daß ich erschrocken war.»Werden wir wieder umziehen? Geht es um etwas Wichtiges? Wird dieses Gespräch lange dauern?«