Выбрать главу

«Wir reden mit Bobby«, sagte mein Vater.»Und wir möchten allein sein. Verstehst du?«

Ich starrte ihn an und streifte Mom dabei mit einem Blick. Irgend etwas stimmte nicht.

«Okay«, sagte ich.»Ich gehe zu Mike. Bis später!«

Ich verschwand durch die Schwingtür, durch die man aus der Küche ins Wohnzimmer gelangte, wartete, bis sie sich hinter mir geschlossen hatte, und verließ dann das Haus durch die vordere Tür. Was zum Teufel ist los? Sie haben noch nie ein Gespräch geführt, bei dem ich nicht wenigstens zuhören durfte. Ich bin doch ein Teil dieser Familie. Vielleicht auch nicht! Besprechen sie, wie sie mich loswerden können? Warum?

Gleich neben Mikes Haus wuchs der beste Kletterbaum, den ich kannte; er hatte Äste, die den Sprossen einer spiralförmigen Leiter glichen und bis hoch in die Spitze wuchsen. Sie waren so zahlreich, daß man nicht herunterfallen konnte. Sobald man die ersten großen Äste erreicht hatte, die in sechs Fuß Höhe wuchsen, war der Rest ein Kinderspiel. Worüber sprachen sie bloß? Warum wollten sie nicht, daß ich ihnen zuhörte?

Ein Sprung mit Anlauf. Die Tennisschuhe fanden an der Rinde Halt, rutschten und fanden erneut Halt, noch ein Schwung, und der Ast war geschafft. Ich verschwand in den dichten Zweigen; beherzt und zielstrebig kletterte ich nach oben.

Was es auch sein mochte, worüber sie gerade redeten, sie sagten bestimmt nichts Nettes über mich und nichts, worüber ich mich wundern würde. Käme ich plötzlich hereinspaziert, würden sie einfach das Gespräch unterbrechen oder das Thema wechseln und über das Büro oder die Bibel oder etwas ähnliches reden.

Je näher man der Baumspitze kam, um so kürzer wurden die Äste, hie und da konnte man über die Hausdächer hinwegsehen. Die Aussicht war dort oben am besten, aber die Äste waren dünn, und der Stamm selbst war nur noch einige Zoll dick, man konnte sich leicht hin und her schwingen.

Ich kletterte fast bis in den Gipfel… das war keine Mutprobe, sondern ich mußte nachdenken, und hier war der einsamste Ort, den ich kannte.

Mom fragt mich sonst immer, wie es in der Schule gewesen ist, dachte ich. Was ich heute gelernt habe. Ich hatte ihr erzählen wollen, daß ich etwas über das Wahrscheinlichkeitsgesetz gelernt habe. Ich hatte sie fragen wollen, was sie denn darüber wisse. Aber plötzlich interessiert sie das alles nicht mehr. Warum ist Dad schon zu Hause? Ist jemand gestorben? Was könnte passiert sein?

Die einzige mir bekannte Person, die bisher gestorben war, war meine Großmutter gewesen, und sie hatten es mir damals erzählt. Ich war ihr nur ein einziges Mal begegnet, sie war streng und weißhaarig und kaum größer als ich gewesen, und ich habe ihren Tod nicht beweint. Mom hat auch nicht geweint und Dad sowieso nicht.

Niemand war gestorben. Das hätten sie mir bestimmt erzählt.

Die Nadeln des Baumes verdeckten den größten Teil unseres Hauses, das eine Viertelmeile entfernt war, aber ich konnte einen Teil des Daches über der Küche ausmachen. Es war nicht schwer zu erkennen. Alle Einwohner von Lakewood Village hatten ein schräges Dach, nur unseres war flach.

Was ging dort drüben vor?

Ein leichter Wind kam auf, und der Baum begann zu schwanken. Ich schlang einen Arm um den Baumstamm.

Es mußte etwas mit mir zu tun haben, dachte ich. Warum sonst hatten sie mich unbedingt loswerden wollen? Es hatte etwas mit mir zu tun, und es war nichts Gutes.

Aber das ist doch nicht möglich. Selbst der Direktor in seinem Büro hat nur gute Nachrichten für mich. Er gratuliert mir, weil ich in die Schulfeuerwehr gewählt worden bin, fragt mich, ob ich daran denken würde, mich als Lehramtsstudent zu bewerben, oder sagt mir, daß ich abgesehen von meinem Bruder bei der Prüfung besser als alle anderen abgeschnitten habe.

In der Dämmerung saß ich wie ein verängstigter Waschbär immer noch auf dem Baum und tappte in Gedanken völlig im dunkeln: ich war besorgt, aber fest entschlossen, nichts zu fragen. Die Entscheidung, wann sie mir erzählen wollten, was eigentlich los war, überließ ich ihnen. Ich war hilflos. Ich konnte nichts machen. Es handelte sich um etwas Wichtiges, um etwas, was ich nicht wissen sollte, und damit Schluß!

Ich rutschte den Stamm hinab und ging nach Hause, wobei ich mir die Flecken vom Harz der Kiefer in die Jeans hineinrieb.

Als ich durch die Schwingtür in die Küche kam, war Dad fort, und Mom bereitete das Abendessen zu. Nicht nur das Abendessen — sie schob gerade auch eine Schaumtorte in den Ofen.

«Hi, Dickie«, sagte sie. Der Glanz ihrer Augen war erloschen.»Was hast du heute in der Schule gelernt?«

Ihre Stimmung übertrug sich sofort auf mich.»Nichts«, erwiderte ich.

Bobby fehlte nun immer öfter in der Schule, und ab und zu fanden wieder jene Familiensitzungen statt.

Wenn ich allein in unserem Zimmer war, das er sich mit mir teilte, hörte ich mitunter gedämpfte Stimmen durch die Wand. Meist sprach Dad und bisweilen auch Mom, manchmal aber auch Bobby, aber so selten und so leise, daß ich mir nicht sicher war, ob ich tatsächlich seine Stimme gehört hatte.

Eines Abends, als er die Leiter zum Bett über mir hinaufkletterte, widerrief ich meinen Entschluß.

«Was geht eigentlich vor, Bobby?«fragte ich.»Mit Mom und Dad. Worüber redet ihr? Betrifft es mich?«

Er blickte nicht einmal über die Kante, wie er es manchmal tat, um mich anzusehen.»Es ist ein Geheimnis«, sagte er.»Es betrifft dich nicht. Es ist etwas, was du nicht zu wissen brauchst.«

* * *

Wir hatten fast immer miteinander reden können, Bobby und ich, und nun plötzlich nicht mehr. Zumindest würde man mich nachts nicht holen, um mich mit verbundenen Augen auf die Ladefläche eines Lasters zu werfen und mich weiß Gott wohin zu schaffen. Vielleicht führte mich mein Bruder an der Nase herum. Vielleicht wird man mich doch holen. Aber wenn er mir nichts erzählen will, will er mir nichts erzählen.

Am nächsten Tag fand ich einen Beutel aus weichem Leder auf dem Schreibtisch in unserem Zimmer. Dieses Behältnis, das ich nie zuvor gesehen hatte, war so groß wie die Geldbörse eines Seeräubers…

Als ich die Riemen löste und den Beutel öffnete, entdeckte ich kein Gold darin, sondern einen Götzen. Es war eine schön geschnitzte Figur aus Ebenholz, ein lachender Buddha, der die Arme über den Kopf erhoben hatte, die Handflächen nach oben gedreht, wobei sich die Fingerspitzen fast berührten. Was zum Teufel…

Da waren Schritte zu hören. Bobby kam! Ich steckte die Figur rasch wieder in den Beutel, zog ihn zu, warf mich aufs Bett und schlug ein Buch auf: ›Raketen, Flugkörper und Raumfahrt‹ von Willy Ley.

«Hi, Bobby. «Ich blickte kurz auf, als er eintrat, und setzte dann meine Lektüre fort.

«Hi.«

Ich las höchst aufmerksam und prägte mir ein, woran ich mich noch heute erinnere: Die Triebwerke von Feststoffraketen sind nicht mit Treibstoffmasse vollgestopft, sie sind um eine kegelförmige Brennkammer herum angeordnet. Je größer der Brennraum, um so größer die Schubkraft. Und wenn sie zu groß ist, dann explodiert die Rakete wahrscheinlich wie Dynamit, da wette ich: wumm!

«Bis bald«, sagte mein Bruder, und schon war er fort. Er hatte sein Jackett und den Lederbeutel mitgenommen und fuhr mit Dad im Auto irgendwohin.

* * *

Zwei Wochen später brachte Dad meinen Bruder Bobby, der müde aussah, ins Krankenhaus. Angeblich war es nichts Ernstes. Eine weitere Woche später war er, ohne auf Wiedersehen gesagt zu haben, tot.

Natürlich, dachte ich, der neun Jahre alte Sherlock Holmes aus der Baker Street: Das war das Geheimnis! Die langen und leisen Gespräche ließen nur einen Schluß zu: Alle, außer mir, hatten gewußt, daß Bobby sterben würde. Auf diese Weise ersparten sie mir den Schmerz.

Der Buddha aus Ebenholz streckte fragend die Hände aus, und ich wußte nicht, ob mein Bruder die Antworten gefunden hatte.