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«Wenn du ein lehrender Engel bist«, sagte ich zu ihm,»dann weißt du bestimmt auch die richtigen Antworten.«

Er wandte sich mir direkt zu und lächelte. Er schien überrascht zu sein.»Den Nagel auf den Kopf getroffen. Natürlich weiß ich die Antworten. Deshalb bin ich ja hier. Woher weißt du das?«

«Ich habe ein paar Fragen «, antwortete ich.»Ich werde fragen, und du wirst mir antworten. Okay?«Wenn Shepherd wirklich ein Wesen aus einem meiner Bücher war, würde ich das jetzt herausfinden.

«Nur zu«, sagte er.

Ich wandte mich ihm direkt zu.»Als Kind hatte ich zwei Stofftiere. Wie hießen sie?«

«Das Kamel hieß Cammie«, sagte er lächelnd.»Und das Zebra hast du Zeebie genannt.«

«Wie war der erste Motor beschaffen, den ich gebaut habe?«Jetzt wurde es schon schwieriger für ihn.

Er antwortete ohne zu zögern.»Es war ein Achtzehn-Zoll-Strahltriebwerk. Vier Zoll im Durchmesser mit verlöteten Nähten und am Ende mit einem fünf Fuß großen Gegengewicht montiert. Dir war klar, daß die Hitze das Lötmittel wegschmelzen und der Motor in ein oder zwei Minuten auseinanderfliegen würde. Deshalb hattest du eine Idee: Alkohol statt Benzin. Aber es flog auseinander, und das Feuer breitete sich auf dem Hinterhof aus…«

Er sprach die ganze Zeit, während er fuhr. Er beschrieb meine Raketen, mein Haus, meine Freunde, meine Familie und den Hund: Einzelheiten aus meinem Leben, an die ich mich kaum noch erinnern konnte, als er sie erwähnte.

Die Charaktere in meinen Büchern sind ganz bestimmt echt. Aber einige von ihnen sind wie Elementarteilchen: Es gibt eine Dimension, in der sie existieren, jedes von ihnen lebendig in seiner eigenen Welt, so wie wir auch in unserer Welt leben. In Büchern dringen sie in meine Atmosphäre ein und verändern sie.

Shepherd war entweder einer von diesen Charakteren, oder er war der größte Irre auf dieser Welt.

«… der Oleanderstrauch steht an der Ecke der Mauer. Vom Kamin hängt ein Mobile herunter, das du aus Blattkupfer und verschweißten Stangen gebaut hast. Es sind gekrümmte Ellipsen, du nennst es ›Radar‹. In der Garage befinden sich Packen mit Holzkohle und Gemälde, die deine Mutter im Kunstunterricht angefertigt hat. Der Holzverschlag, den du als geheimen Eingang zu eurem Haus benutzt…«

Ich unterbrach ihn.»Eine Frage, bitte.«

Er hörte sofort mit seinem Bericht auf, und wir fuhren schweigend weiter. Riesige Bäume spendeten in der Mittagssonne wohltuend ihren Schatten über dem Wagen, der sich im ersten Gang die steilen Kurven der Straße hinaufquälte.

«Du erzählst von meiner Kindheit, als ob es die Gegenwart und nicht die Vergangenheit sei«, sagte ich verwundert.»Für dich scheint diese Zeit immer noch zu existieren. Das Ich, von dem du sprichst, das das Mobile gebaut hat, heißt aber Dickie. Das war ich, in meiner Vergangenheit.«

Er nickte mir zu.»Selbstverständlich. Diese Zeit liegt jetzt hinter dir.«

«Noch eine andere Frage«, sagte ich zu ihm.

Er antwortete sofort, ohne einen Moment zu zögern.»Du kannst fragen, was du möchtest.«

«Was ist die dritte Potenz von hunderteinunddreißig?«

Er lachte.»Ich bin ein Engel und kein Computer.«

«Ich habe nichts anderes behauptet. Dann schätze.«

Er blickte mich einen Moment nachdenklich an.»Fünfhundertsiebenundzwanzig?«

Völlig daneben, das hätte ein Schulkind besser gewußt. Der Typ ist nicht allwissend, das hätte ich mir doch denken können. Vielleicht ist Mathematik auch nicht seine Stärke. Mal sehen, was er sonst noch alles nicht weiß.

«Gibt es im Himmelreich eine Schwerkraft?«fragte ich naiv.

Er blickte mich überrascht an.»Seit wann denkst du über dieses Problem nach?«

«Seit ungefähr einem Jahr. «Ich zeigte auf die Straße.»Paß auf den großen Felsen dort auf.«

Die Warnung kam zu spät. Er hatte den Felsblock nicht gesehen und ihn mit dem Wagen gestreift. Das lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße. Der Kratzer im Blech schien ihn nicht zu berühren, er fuhr einfach weiter.»Hast du noch weitere Fragen?«wollte er von mir wissen.

Ich ließ das Thema mit der Schwerkraft sausen. Mehr als der Himmel interessierte mich im Moment, wer die fremde Person neben mir war.

«Warum bist du… warum bist du so, wie du bist?«fragte ich ein wenig verunsichert.

«Es gibt einen schönen Spruch: ›Eine Ausschweifung des Herzens ist ein Mangel an Geist.‹«Die Art und Weise, wie er dieses Sprichwort zitierte, machte es zu einer traurigen Wahrheit.

Mir war klar, daß er mich nicht kränken wollte. Und ich wußte genausogut wie er, daß er mich nicht gesucht und gefunden hatte, um mit mir eine Fahrt zum Gipfel des Berges zu unternehmen. Jetzt wußte ich auch noch, daß er kein Meister in Mathematik war. Aber das interessierte mich jetzt nicht so sehr. Alle möglichen Fragen schwirrten mir durch den Kopf.

«Und du hast mir das alles erzählt, weil es damit zu tun hat, weshalb du hier bist«, sagte ich zu ihm. Er nickte mir kurz zu und lächelte.»So ist es. «Habe ich ihn von Anfang an gemocht, weil mir sein Lächeln bekannt vorgekommen ist?

2

Lehrende Engel sind nicht unbedingt Experten im Autofahren. Eine scharfe Kurve auf der Bergstraße und dann die Kante eines Felsens — Shepherds Kratzer sind dort noch heute zu erkennen.

Als ob er meine Gedanken erraten hätte, sagte er:»Es ist schon eine Weile her, seit ich zum letzten Mal hinterm Steuer saß.«

Während das Auto die Steigung erklomm, verkrampfte ich meine Beine und klammerte mich mit den Händen an der zerlumpten Armlehne fest.»Es wird gleich weniger steil.«

Steil oder nicht steil, das kümmerte meinen netten Fahrer im Moment wenig.»Erinnerst du dich noch an deine Kindheit?«fragte er.

«Als du mir vorhin davon erzählt hast, fiel mir einiges wieder ein. Ansonsten weiß ich wirklich nicht viel aus dieser Zeit«, sagte ich.

«Du warst immer ein emsiger Junge. Wenn du etwas lernen wolltest, warst du ganz ernsthaft bei der Sache. Kannst du dich noch daran erinnern, wie du schreiben gelernt hast?«

Ich dachte an meinen kreativen Schreibkurs an der High-School, den John Gärtner gehalten hatte. Lernt man wirklich von anderen Menschen das Schreiben, oder aktivieren sie in uns nur die Kraft des Wortes, die zwischendurch gelöscht worden war?

Wieder schien er meine Gedanken erraten zu haben.

«Ich meine das Schreiben mit der Hand: deine Mutter am Küchentisch, wie sie Briefe schreibt. Du selbst an ihrer Seite mit Papier und Bleistift, und du malst die As, die Es und Os mit Rundungen, Schleifen und Kurven, Zeile um Zeile und Seite um Seite.«

Ich wußte jetzt, was er meinte, und erinnerte mich: Ich besaß einen roten Bleistift. Und viele Rs und viele S. Man war schon groß, wenn man sie ordentlich von links nach rechts auf das Papier brachte. Mutter lobte mich, sprach von einer schönen Arbeit, und ich hatte den Wunsch, das Ganze nochmal zu zeichnen. Heute habe ich die schlechteste Handschrift der Welt.

«Du kennst Dickie ziemlich gut, nicht wahr?«fragte ich meinen Fahrer, der Richtung Gipfel steuerte.

Er nickte mir zu.»Viel besser, als ich dich kenne.«

«Weil er Hilfe braucht und ich nicht?«

Er schüttelte den Kopf.»Weil er Hilfe wünscht und annimmt. Das tust du nicht.«

Der alte Ford bog um die letzte Kurve, wir hatten den Gipfel des Berges erreicht, und vor uns weitete sich der Horizont nach Norden und Westen. Er fuhr den Wagen dicht an die Stelle, von der aus die Paragleiter immer starten, und ich suchte nach dem Türgriff.

«Ich bin froh, daß du für ihn hier bist«, sagte ich zu Shepherd.»Grüß ihn bitte von mir.«

Er erwiderte nichts. Ich nahm mein Gepäck vom Rücksitz, stieg aus dem Wagen und wuchtete es auf meine Schultern. Der Wind war sanft wie zuvor. Wenn ich dieses Mal nicht aufsteigen kann, werde ich meine Sachen zusammenpacken und nach Hause gehen.