«Leslie, mich treibt nur die Neugier. Wenn wir entdecken, daß Moral persönlich geprägt ist, so bedeutet das nicht, daß sie plötzlich das Gegenteil von dem ist, was sie war; wir verwandeln uns nicht in einen mordlustigen Verrückten, nur weil wir erkennen, daß wir einer sein könnten, wenn wir wollten. Wir sind rücksichtsvoll, freundlich, höflich und lieb zueinander, wir riskieren unser Leben, um jemanden, der in Seenot geraten ist, zu retten. Und zwar deshalb, weil wir gern so sein möchten, und nicht, weil wir glauben, Gott würde wütend auf uns sein oder Dad würde es mißbilligen, wenn wir nicht so wären. Wir sind für unseren Charakter verantwortlich, nicht Dad oder Gott…«
Sie war ungerührt.»Bitte, nicht. Erkennst du nicht, daß du das Ganze der Vernunft unterordnest, wenn du schreibst, gut sei, was uns glücklich macht? ›Richard Bach sagt, gut ist, was mich glücklich macht. Ich stehle gern Modelleisenbahnen, also ist das Stehlen von Modelleisenbahnen gut, und wie kann mich jemand dafür bestrafen wollen, wo ich doch nur Gutes tue, indem ich mit einer Lokomotive in meiner Brotbüchse nach Hause trotte? Wie dem auch sei, es war Richard Bachs Idee.‹ Hinterher wirst du zusammen mit dem ewig glücklichen Dieb von Modelleisenbahnen auf der Anklagebank sitzen…«
«Dann werde ich in den Zeugenstand treten müssen«, sagte ich.»Der Weise, Euer Ehren, muß die Folgen bedenken, bevor er zur Tat schreitet. Vielleicht mag es unser Herz erfreuen und auf den ersten Blick gut sein, eine Diesellok, die jemand anderem gehört, zu klauen, aber das könnte unerfreuliche Konsequenzen haben, und deshalb wäre es besser, den Streich noch einmal zu überdenken.«
Sie seufzte und verkniff es sich, ungeduldige Fragen zu stellen.
«Ich bitte Euer Ehren um Nachsicht«, sagte ich.»Jede Tat hat ihre wahrscheinlichen, ihre möglichen und ihre unerwarteten Konsequenzen. Das Gute — wenn alle diese Konsequenzen im Interesse des langfristigen Wohlbehagens der besonnenen Person liegen — wird sowohl aus jeder Konsequenz, die sich danach ergibt, als auch aus der ursprünglichen Tat resultieren. ›Ich werde wahrscheinlich nicht dabei ertappt‹ ist nicht das gleiche wie ›Ich werde für den Rest meines Lebens durch das, was ich gleich tun werde, Wohlbehagen empfinden.‹
Euer Ehren, ich behaupte: Da unser Gefangener darüber unglücklich ist, daß er vor Gericht stehen muß, hat er tatsächlich nicht in seinem eigenen Interesse gehandelt, als er die Lokomotive in seine Brotbüchse steckte, und er ist der Torheit überführt, da sich sein Diebstahl als eine schlechte Idee erwiesen hat!«
«Originell«, sagte Leslie.»Aber hast du bedacht, daß das, was mit gut gemeint ist, auf einer allgemeinen Übereinkunft beruht, wonach gut ist, was die meisten Menschen jahrhundertelang als positiv und lebensbejahend angesehen haben? Und hast du bedacht, daß es nicht in deinem Interesse liegen kann, sprich schlecht ist, wenn du den Rest deines Lebens mit solchen Argumenten vor Gericht verbringst? Und sollten wir es nicht dabei bewenden lassen und uns wieder aufs Ohr legen?«
«Wenn die meisten glauben, daß es gut sei, Spinnen zu töten, sind wir dann schlecht, wenn wir sie freilassen?«fragte ich.»Erwartet man von uns, daß wir uns nach dem richten, was andere Leute denken?«
«Du weißt, was ich meine.«
«Lies im Lexikon nach«, sagte ich.»Jedes Wort, das einen Wert ausdrückt, ist austauschbar. Gut ist richtig ist moralisch ist einwandfrei ist gerecht ist gut. Aber prüfe die Beispiele, und sie sind überhaupt nicht austauschbar: Jeder sagt: Mach mich glücklich! Ich hole jetzt das Lexikon!«
«Bitte, nicht.«
«Wie hast du dich während des Vietnamkriegs verhalten, Wookie? Der Präsident hielt ihn für einen guten Krieg, und das taten auch die meisten Leute. Ich war gleichfalls dieser Meinung, bis ich dir begegnete. Der Gedanke, daß wir ein unschuldiges Land gegen einen bösen Aggressor verteidigten, machte die meisten von uns glücklich. Aber nicht dich! Was du darüber erfuhrst, machte dich nicht glücklich — du begannst, die Bewegung gegen den Vietnamkrieg, die Konzerte und die Märsche… mit zu organisieren.«
«Richie?»
«Ja?»
«Du magst mit deiner Meinung über gut und böse recht haben. Aber laß uns morgen darüber sprechen.«
«Jedesmal, wenn wir großartig! sagen, wollen wir damit ausdrücken, daß sich unser Wohlbefinden erhöht hat. Jedesmal, wenn wir verdammt! sagen oder O nein! meinen wir, daß es weniger geworden ist. Stündlich prüfen wir, was gut und was schlecht, was richtig und was falsch ist. Wir können uns selbst minutenlang zuhören und unsere eigene Moral näher betrachten!«
«Schlafen ist gut«, sagte sie.»Schlafen würde mich glücklich machen.«
«Wenn ich hier liege, ohne einen Piep zu sagen, und in Gedanken jedes Beispiel durchgehe, das mir einfällt, so macht es mich glücklich, wenn ich mir das Gute und Richtige und Wunderbare und Großartige und Schöne und Umwerfende vergegenwärtige, und unglücklich, wenn ich an das Böse und Schlechte und Verruchte und Gemeine denke. Stört dich das beim Schlafen?«
Sie rollte sich an meiner Seite zusammen und vergrub ihr Gesicht in ihr Kissen.»Nein. Solange du nicht zwinkerst.«
Im Dunkeln lächelte ich still vor mich hin.
37
Ich versank ganz in Gedanken an Gutes und Böses, doch bald war ich eingeschlafen…
«Ich kann nicht glauben, was du denkst! Gut ist, was uns glücklich macht?«
«Du kannst es glauben oder auch nicht, Dickie«, sagte ich.»Denken ist kein Verbrechen.«
«Und selbst wenn es das wäre, würdest du es wahrscheinlich trotzdem tun.«
Die Bergkuppe war noch nie so grün gewesen wie jetzt, und der ganze Abhang war mit unzähligen winzigen Blumen bedeckt. Es waren meist gelbe und blaue, deren Namen Leslie auf Anhieb hätte sagen können.
«Wieso weißt du, was ich denke?«fragte ich.»Habe ich dir den Schlüssel zu meiner Psyche gegeben? Beobachtest du alles, was ich mache?«
Statt eines Steines reichte er mir wortlos ein kleines Segelflugzeug aus Balsaholz. Seine Tragfläche hatte eine Spannweite von zwölf Zoll. Zum Ausgleich war ein kleiner Klumpen Lehm an der Flugzeugnase befestigt.
«Ich beobachte gar nichts«, sagte er.»Ich sehe dein Leben nur, wenn du es mir gestattest. Aber neuerdings weiß ich, welche Erfahrungen du sammelst. Das war vorher nicht so.«
War meine Privatsphäre verletzt, weil er inzwischen soviel Raum in meinem Denken beanspruchte? Empfand ich es als unangenehm, daß er in Erfahrung zu bringen versuchte, was ich wußte?
Ich lächelte:»Nun ja, du wirst erwachsen.«
Er blickte mich erstaunt an.»Das stimmt nicht. Hast du das schon vergessen? Ich bin neun Jahre alt, Richard, und ich werde nie älter sein.«
«Warum willst du alles wissen, was ich weiß, wenn du nicht vorhast, ein Leben mit allen meinen Vorzügen und ohne meine Fehler zu führen?«
«Ich habe nicht gesagt, daß ich dein Leben auch leben möchte. Ich habe gesagt, ich möchte wissen, wie es wäre, wenn ich es täte. Für den Mann, zu dem ich werde und der sich in seinen Handlungen nach dem richten wird, was ich jetzt von dir erfahre, werde ich genauso neun Jahre alt sein, wie ich es für dich bin. Sage mir bitte, was wahr ist… Ich weiß nicht, was ich von gut und böse halten soll, und ich muß es wissen!«
«Was ist denn nicht klar?«fragte ich.»Gut ist, was dich…«