Ich beugte mich herunter und winkte ihm durchs Autofenster zu.»Es war mir ein Vergnügen, Mister Shepherd. Und vielen Dank fürs Mitnehmen.«
Er nickte mir zu, und ich wollte mich entfernen, als ich seine Stimme hörte.»Nur noch eine Sache, bitte…«
Überrascht drehte ich mich um und sah ihn fragend an.
Er lächelte mir zu.»Würde es dir etwas ausmachen, ein Buch für Dickie zu signieren?«
«Überhaupt nicht. «Ich kam gar nicht auf die Idee, daß sein Anliegen irrational war. Hoffnung und Intuition überwinden die Grenzen der Zeit, nicht Papierstapel und Druckerschwärze.
Ich stellte meinen Rucksack mit der Ausrüstung auf die Erde, öffnete erneut die Beifahrertür und ließ mich auf den Sitz neben ihn fallen.
Shepherd berührte das Buch, das zwischen uns lag.»Du hast ein Versprechen gegeben«, sagte er, aber es klang nicht vorwurfsvoll.»Erinnerst du dich noch?«
«Bestimmt hast du recht«, erwiderte ich.»Aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern. «Als Kind war ich voller Phantasien: Wünsche und Träume gestalteten die Wirklichkeit, wie sie einmal sein sollte. Es hätte mich nicht überrascht, wenn manche meiner Visionen, an die ich mich so lebhaft erinnern kann, zur Realität geworden wäre und manche Tatsache hingegen sich nun als Blendwerk herausstellen würde.
Ich versuchte, ihm auszuweichen.»Es ist schon so lange her, Mister Shepherd. Dickie ist in weiter Ferne, er ist eine fremde Person. Ich habe vergessen, wer er war.«
«Aber du bist für ihn keine fremde Person. Er geht davon aus, daß du ihn nicht vergißt und daß du alles tust, um ihm beizubringen, wie man das Leben bewältigt. Er will unbedingt das herausfinden, was du schon weißt.«
«Es wird ihm ganz bestimmt gelingen«, erwiderte ich.
Wieder lächelte mich Shepherd an.»Aber dann wird er so alt sein wie du jetzt. Du hast einst einem Versuch zugestimmt. Du wolltest herausfinden, was passieren würde, wenn er nicht erst wie du fünfzig Jahre lang herumprobieren müßte.«
«Ich habe selbst zugestimmt?«fragte ich ungläubig, weil ich mich nicht daran erinnern konnte.
Shepherd nickte.»Es war im Jahr 1944, als ich dir sagte, daß die Zeit für mich keine so stabile Mauer bildet wie für dich. Du hast versprochen, daß du fünfzig Jahre später ein Buch für den Jungen schreiben würdest, der du einst gewesen, um alles, was du weißt, in dein Bewußtsein zurückzuholen: worauf man sich freut, wie man glücklich ist, wie man sein Leben retten kann — Wissen, das du gerne gehabt hättest, als du so alt warst wie er.«
«Glaubst du das wirklich?«Ich blickte nach draußen, die Fahnen flatterten im auffrischenden Wind.»Welch eine schöne Idee.«
Shepherd räusperte sich kurz.»Es sind fünfzig Jahre vergangen, Richard. «Er rutschte unbehaglich auf seinem Sitz hin und her.»Der Junge, der du einst gewesen, wartet immer noch auf dich. Du hast es ihm versprochen.«
«Ich kann mich immer noch an kein Versprechen erinnern«, gab ich unwillig zurück.
Der Engel blickte mich an, als ob ich meine Seele verkauft hätte. Meine Worte klangen wahrscheinlich ziemlich hart, aber niemand kann wirklich ermessen, wie schwer es ist, ein Buch zu schreiben.»Erzähl ihm, daß ich das Versprechen vergessen habe, aber daß ansonsten alles in Ordnung sei. Er braucht sich also keine Sorgen zu machen.«
Shepherd seufzte.»Bedeuten dir Versprechen gegenüber Kindern eigentlich überhaupt nichts?«
Ich schüttelte heftig den Kopf.»Nicht, wenn das eingehaltene Versprechen ihnen das Herz brechen würde. Er braucht nicht zu wissen, wie viele Schwierigkeiten ihn noch erwarten: daß er der einzige aus seiner Familie sein wird, der am Leben bleibt, er muß nichts von Scheidung, Betrug oder Verbrechen wissen und daß er vorerst nicht die Frau seiner Träume heiraten kann. Shepherd, ein Jahr ist für einen Neunjährigen eine Ewigkeit. Du hast recht: Dieses Versprechen bedeutet also gar nichts.«
Betrübt verzog er das Gesicht.»Ich habe mir gedacht, daß du die Angelegenheit auf diese Weise abhandeln würdest. Ich weiß genau, wie schwierig es ist, ein Buch zu schreiben. Und ich habe gewußt, daß du es nicht schreiben würdest, deshalb habe ich es für dich geschrieben.«
3
«Du mußt lediglich dieses Buch hier signieren«, sagte der Engel zu mir und lächelte erneut.»Es wird auch unser kleines Geheimnis bleiben, daß du nicht die Zeit gehabt hast, es selbst zu schreiben. Dickie darf nichts davon erfahren. Er hält dich für den lieben Gott, egal was du tust.«
«Es wird keine Lügen gegenüber dem kleinen Jungen geben«, erwiderte ich.»Sag es ihm ganz ehrlich. Er kann sich nicht vorstellen, was er da von mir verlangt. Sag ihm, daß er erst in meinem Alter erfahren wird, daß Bücher nicht aus einer Laune heraus oder, um alte Versprechen einzulösen, geschrieben werden. Bücher schreibt man über viele Jahre hinweg, indem man mit Hilfe von Ideen, die man vorher nicht gehabt hat, sein Innerstes nach außen kehrt. Und sogar dann ist das Schreiben eine letzte Zuflucht, ein verzweifeltes Lösegeld, das du dafür bezahlst, daß du dein Leben wiederbekommst. Es ist phantastisch, wenn es vorbei ist, und alles, was ich je sagen wollte, ist niedergeschrieben. Auf diese Weise habe ich mir einen Nachmittag auf dem Berggipfel mit meinem Gleitschirm redlich verdient.«
«Ich werde ihm sagen, was zu sagen ist«, erwiderte er ungerührt.»Und selbstverständlich weiß ich, was du schreiben würdest. Und jetzt signiere bitte das Buch: Du hast es zwar nicht geschrieben, aber du kannst bestätigen, daß es wahr ist. Dann werde ich gehen. «Er zog einen Füllfederhalter aus der Tasche.
«Und noch ein Wort zur Ermunterung: Hab Vertrauen. «Er reichte mir das Buch, und ich sah es mir genauer an.
Ein grüner Umschlag. Der Titel in weißen Buchstaben: ANTWORTEN — Anweisungen zum Handeln und Denken. So kommt man zu einem erfüllten Leben. Mit Erfolgsgarantie. Von Richard Bach.
Mir wurde mulmig zumute. Dann sagte ich mir, daß eine Menge guter Bücher dämliche Titel haben.
Zögernd öffnete ich das Buch und überflog das Inhaltsverzeichnis:
Familie
Schule
Studium
Arbeitsplatz
Geld
Verantwortung
Verpflichtungen
Hilfsbereitschaft
Sorge für andere
In diesem Tenor ging es weiter. Zwei Seiten in kleiner Schrift, nur für die Kapitel. Wenn Dickie irgendwelche Probleme beim Einschlafen hatte — hier war die Lösung.
Ich klappte das Buch an irgendeiner Stelle auf und las: Ein wichtiger Teil des Arbeitsumfeldes besteht in der Vorsorge für Begünstigungen bei der Erwerbstätigkeit. Ein guter Plan für die Altersvorsorge ist soviel wert wie ein höheres Gehalt, und eine automatische Anpassung an die Lebenshaltungskosten ist so wertvoll wie Ersparnisse auf der Bank.
Igitt, dachte ich. Warum findet nicht jeder selbst heraus, was ihm Spaß macht und wie er sich selbst verwirklichen kann?
Ich machte einen neuen Versuch.
Alles was du tust, spiegelt sich in der Familie wider.
Bevor du etwas tust, was sie in Verlegenheit bringen könnte, überleg dir folgendes: Wird meine Familie glücklich sein, wenn ich es tue?
Ach, du liebe Zeit. Der dritte Versuch wird vielleicht ein Treffer.
Gott beobachtet dich. Der Zeitpunkt wird kommen, und Er wird dich fragen: Bist du ein guter Bürger gewesen? Sag ihm, daß du es wenigstens versucht hast.
Ich schluckte betreten, wurde immer nervöser und überflog die Seiten. Das Kind will wissen, was ich in den letzten fünfzig Jahren gelernt habe, und dann bekommt es so etwas vorgesetzt? Wie kann ein Engel solch höllische Gedanken aufschreiben?