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«Meine Großeltern sind gestorben, bevor ich geboren wurde beziehungsweise als ich noch ganz klein war. Damals ist auch mein Bruder gestorben. Aber das weißt du alles schon. «Statistik, dachte ich, keine wirkliche Erinnerung.

Leslie war nach dem Tod ihres Bruders völlig verzweifelt gewesen, und sie hatte sich immer geweigert zu glauben, daß der Tod meines Bruders mich nicht bedrückt hatte. Aber die Wahrheit ist, daß ich seinem Tod kaum Beachtung geschenkt habe. Es war einfach vorbei. Ich hatte erwartet, daß sie die Sache wieder hervorkramen würde: Wie kannst du nur vom Tod deines Bruders so reden, als ob er ein Fall für die Statistik sei und keine Erinnerung?

Aber sie sprach von etwas anderem.»Erinnerst du dich daran, daß du Dickie versprochen hast, ein Buch für ihn zu schreiben?«

Ihre Stimme klang so ruhig, daß ich sofort vermutete, sie würde gerade über einem neuen Thema brüten. Nichts, was heute passiert war, so dachte ich, sollte einen in Weltuntergangsstimmung versetzen. Der erschreckendste Teil — das Kind mit dem Flammenwerfer — hatte sich lediglich in meinem Bewußtsein abgespielt.

«Sei nicht albern«, sagte ich zu ihr.»Wie sollte ich mich an solche Dinge erinnern?«

«Tu es doch einfach, Richie. Stell dir vor, du bist wieder neun Jahre alt. Großmutter und Großvater Shaw sind bereits tot, Großmutter und Großvater Bach ebenso, und dein Bruder Bobby ist vor kurzem gestorben. Wer ist der nächste? Bist du dir sicher, daß es nicht dich trifft? Machst du dir keine Sorgen um die Zukunft? Was fühlst du?«

Was wollte sie mir damit sagen? Sie weiß, daß ich mir keine Sorgen mache. Einer Bedrohung werde ich ausweichen, wenn ich kann. Ich packe die Dinge immer direkt an. Man kann entweder planen, was noch kommen soll, oder sich damit auseinandersetzen, was bereits eingetreten ist. Sich zu sorgen ist Zeitverschwendung.

Aber um ihr einen Gefallen zu tun, schloß ich die Augen und drehte die Zeit zurück: Ich beobachtete den Neunjährigen und wußte, was er dachte.

Ich fand ihn plötzlich frierend im Bett, die Augen fest geschlossen, die Fäuste geballt und ganz allein. Er war nicht beunruhigt, er hatte schreckliche Angst.

«Wenn der blitzgescheite Bobby nicht älter als elf Jahre werden kann, dann habe ich auch keine Chance«, sagte ich dann zu Leslie.»Es macht zwar keinen Sinn, aber ich weiß, daß ich mit zehn Jahren sterben werde.«

Was für ein seltsames Gefühl, wieder im Kinderzimmer zu sein. Das Doppelstockbett am Fenster, die obere Koje war nach Bobbys Tod geblieben, der weiße Schreibtisch aus Pinienholz, seine Oberfläche von Klebstoff und Kratzern ruiniert, Kometen aus Balsaholz und Papier hängen an Bindfäden von der Decke, bemalte Flugzeugmodelle aus solidem Holz stehen im Regal zwischen den Büchern, jedes hat stundenlange Arbeit verschlungen, und ich erkannte sie alle wieder: eine JU-88 Stuka in Braun, eine Piper in Gelb, eine Lockheed P-38, deren Heck bei einem unserer Starts abgebrochen war… ich hatte vergessen, daß es so viele kleine Flugzeuge in meiner Kindheit gab… dazu noch eine P-40 und eine FW-190 aus Metall, beide eher grob gearbeitet, sie standen auf dem Schreibtisch neben der mattschimmernden Lampe.

«Schau in diesen Raum«, sagte ich zu Leslie.»Wieso kann ich mich so deutlich daran erinnern? Die ganzen Jahre hat er sich für mich in einem dichten Nebel befunden.«

Oben am Schrank waren zwei Türen, und dahinter befanden sich, das wußte ich, bauschige Winter-Bettdecken, Cammie und Zeebie, das Monopoly-Spiel und das Ouija-Brett. Auf dem alten Flickenteppich mußte man sich sehr sachte bewegen, sonst rutschte man weg wie auf Eis.

«Willst du mit ihm reden?«fragte Leslie.

Fast unmerklich schüttelte ich den Kopf.»Ich will nur betrachten. «Was sollte mich eigentlich erschrecken, wenn ich mit ihm sprach?

Er trug Jeans und ein langärmliges Flanellhemd, schwarze Vierecke auf rotem Grund, durchflochten mit gelben Streifen.

Wie jung sein Gesicht war. Eine Reihe Sommersprossen zog sich von den Backenknochen quer über die Nase. Sein Haar war heller als meines, die Haut dunkler vom vielen Faulenzen in der Sonne. Das Gesicht breiter und runder, Tränen flossen aus den fest geschlossenen Augen. Ein hübsches Kind, zu Tode erschrocken.

Mach weiter, Dickie, dachte ich, es wird schon alles gut werden.

Plötzlich riß er die Augen auf und merkte, daß ich ihn beobachtete; und er öffnete den Mund, um zu schreien.

Unwillkürlich floh ich in die Gegenwart zurück, und der Junge verschwand für mich zur gleichen Zeit, wie ich für ihn verschwunden sein mußte.

«Hallo!«rief ich ihm noch zu. Aber es war zu spät.

6

«Wieso hallo?«fragte Leslie überrascht. Ich konzentrierte mich auf die Gegenwart.»Er hat mich gesehen.«

«Und was hat er gesagt?«

«Nichts. Wir waren beide ziemlich erschrocken. «Ich dachte einen Moment nach.»Eine seltsame Sache.«

«Und was wird jetzt aus ihm werden?«

«Er wird sich bald wieder beruhigen. Er weiß nur nicht, was als nächstes kommt, und ist deshalb durcheinander. «Ich lächelte sie einen Moment lang aufmunternd an.»Es wird alles gutgehen. Er wird gut in der Schule sein, und er wird viele Dinge lernen: alles über Flugzeuge, Astronomie, Segeln, Tauchen…«

Sie berührte meine Hand und blickte mich nachdenklich an.»Und wie denkst du jetzt über ihn?«

«Es hat mir fast das Herz gebrochen. Ich wünschte, ich könnte ihn umarmen, ihm sagen, daß er nicht zu weinen braucht, weil er jetzt sicher ist und nicht sterben wird.«

Leslie, meine Liebe, mein bester Freund. Sie sagte kein Wort. Sie ließ mich meinen Worten und Gedanken lauschen. Es herrschte Stille. Lange Zeit.

Ich suchte mein Gleichgewicht. Ich war nach außen nie allzu gefühlsbetont, weil Gefühle eine persönliche Angelegenheit sind. Ich habe sie häufig unterdrückt. Ein starkes Stück, sie einfach zu unterdrücken, aber es funktioniert. Die ganze Angelegenheit existiert schießlich nur in meinem Kopf.

«Du hältst seine Zukunft in deinen Händen«, sagte sie in die Stille hinein.

«Seine höchstwahrscheinliche Zukunft«, erwiderte ich.»Er hat noch andere Möglichkeiten.«

Leslie schüttelte den Kopf.»Du bist der einzige, der beurteilen kann, was er wissen muß. Wenn er in seinem Leben mehr erreichen will als du, bist du der einzige, der ihm das klarmachen kann.«

In diesem Moment liebte ich den kleinen Kerl. Und wenn ich bei ihm war, lichtete sich der Nebel über meiner Kindheit, alles glänzte kristallklar, und nichts war verloren.

«Ich wache über seine Zukunft«, sagte ich mit Bestimmtheit,»und er wacht über meine Vergangenheit.«

Plötzlich hatte ich das seltsame Gefühl, daß sie einander sehr brauchten, Dickie und Richard, zusammen wurden sie erst zu einer Einheit. Mußte ich wirklich so weit gehen — ich, der sich immer zurückzieht? Mußte ich auf ein Kind treffen, das mich in Asche verwandeln wollte, und ihm ganz persönlich zeigen, daß ich es liebte, egal, was geschah? Lieber würde ich von hier bis nach Oregon durch zerbrochenes Glas kriechen.

Gab es einen anderen Weg? Meine verborgenen Gehirnwindungen zeigten die monochromen Abläufe der Zeit, aus der ich gekommen war: verblaßte Fragezeichen. Dickie schritt an Mauern aus farbigem Sonnenlicht entlang, hinterließ eingravierte Details, und er vergaß nichts.

Jetzt fürchtete er sich vor der aufkommenden Dunkelheit, dabei war das doch gar keine Dunkelheit, sondern die bevorstehenden Abenteuer warfen ihre Schatten voraus. Das wußte ich genau. Die Entdeckungen würden ihn mitreißen, und er würde all das lernen, was er sich jetzt so sehnlichst zu wissen wünschte.