Stell dich deinen Ängsten, wollte ich ihm sagen. Trau ihnen das Schlimmste zu und zerstör sie im Zweifelsfall
sofort. Sonst werden sie sich vermehren, Dickie, sie werden wuchern, bis sie dich dicht umschließen und die Straße des Lebens, die du einschlagen möchtest, versperren. Du fürchtest dich vor Hirngespinsten, die sich als Höllenqualen tarnen.
Ich habe gut reden, ich habe das schon hinter mir. Er hat alles noch vor sich.
Wenn ich heute verängstigt wäre, dachte ich dann, was würde ich von dem, der es schon hinter sich hat, am dringlichsten wissen wollen?
Wenn die Zeit zu kämpfen kommt, Richard, werde ich bei dir sein, und die Waffe, die du brauchst, ist dann in deiner Hand.
Konnte ich ihm das jetzt sagen, mit der vagen Hoffnung, daß er es verstehen würde?
Eigentlich nicht, dachte ich dann, vielleicht bin ich derjenige, gegen den er kämpfen will.
7
«Leslie, warum kann ich die ganze Sache nicht einfach vergessen? Ich habe eine Menge wichtigerer Dinge in meinem Leben zu tun, als mit meiner eigenen Phantasie herumzuspielen.«
«Wie recht du hast«, erwiderte sie und räkelte sich auf dem Sofa.»Möchtest du Reis zum Essen?«
«Nein, es ist mir wirklich ernst. Was erreiche ich denn damit, wenn ich die Augen schließe und vorgebe, mit einer kleinen Person befreundet zu sein, die meine Kindheit besitzt? Warum kümmere ich mich um alte Geschichten?«
«Es handelt sich nicht um irgendeine alte Geschichte«, entgegnete Leslie.»Es ist deine Gegenwart. Du weißt, wer du bist, und er weiß warum. Wenn ihr Freunde seid, könnt ihr euch aufeinander einlassen. Aber niemand kann dir vorschreiben, was du zu tun hast. Ich liebe dich so, wie du nun einmal bist.«
Ich umarmte sie.»Danke, Liebling.«
«Schon gut«, sagte sie lächelnd.»Es ist mir egal, ob du ein hoffnungsloser Feigling bist, der nie zugeben würde, daß er nur einen Hauch von Gefühl in sich hat, der abstreitet, daß er für einen anderen Menschen etwas empfindet oder daß er überhaupt so etwas wie Emotionen besitzt. Es ist mir egal, ob du deine Kindheit verdrängst und so tust, als wärst du eben von einem anderen Stern gefallen. Du bist ein prima Koch, und das zeichnet den guten Ehemann aus.«
Lieber Himmel, dachte ich, sie findet also, daß es gut für mich wäre, dahinten in der Vergangenheit die Büchse der Pandora zu öffnen, um zu Dickie zu gelangen. Eine andere Ehefrau würde diesen Ehemann hinauswerfen, der endlos in seinem Bewußtsein herumlungert und sich unbedingt mit einem inexistenten Kind anfreunden will.
Kinder denken sich Erwachsene als Spielgefährten aus, überlegte ich. Dann können doch auch Kinder die Phantasie von Erwachsenen beleben. In meinen Büchern ist die Möwe Jonathan ein Produkt meiner Phantasie, ebenso Donald Shimoda und Pye… drei meiner vier besten Freunde und wichtigsten Lehrer haben keinen physischen Körper. Vielleicht würde Dickie mein Leben genauso verändern?
Ich verliere jetzt langsam die Kontrolle, dachte ich, dank Shepherd und seiner verrückten Phantasien. Wenn ich diesen alten Ford noch einmal sehe, werde ich mir als erstes das Nummernschild notieren, um herauszufinden, welche Vorstrafen der Bursche schon hat. Wieso kann so ein Verrückter eigentlich mein wohlgeordnetes Leben dermaßen durcheinanderbringen?
«Reis ist gut«, sagte ich und erhob mich.
Ich ließ Leslie mit ihrer Teetasse auf der Couch zurück, stellte die chinesiche Pfanne auf den Herd, entzündete die Flamme, träufelte ein wenig Olivenöl hinein, nahm Sellerie, Zwiebeln, Pfeffer und Ingwer aus dem Kühlschrank und hackte und mahlte alles klein.
Wovor ängstigte ich mich eigentlich? Wer bestimmt letzten Endes mein Denken? Ich will mir diesen kleinen Kerl jetzt mal ein wenig netter vorstellen… er kann mit einer Entschuldigung zu mir kommen wegen der Sache mit dem Flammenwerfer, er soll die Lücken in der Erinnerung an meine Kindheit schließen, und dann kann er seiner eigenen imaginären Wege gehen und sich einbilden, er sei nun klüger. Schaden kann ihm das jedenfalls nicht.
Das gewürfelte Gemüse in die Pfanne, dazu den Reis von gestern, etwas Soja, daß es zischte, und dann noch Bohnensprossen. Fertig ist das Menü für zwei Personen.
Wenn es mir soviel Spaß macht, neue physische Rekorde aufzustellen — eine Meile in nur zehn Minuten anstatt in zehn Minuten und fünfunddreißig Sekunden zu laufen, hoch in den Lüften mit dem Gleitschirm zwei und eine halbe anstatt zwei und eine viertel Stunde zu fliegen — wenn ich selbst also meine körperliche Leistungsfähigkeit steigere, warum sollte ich dann nicht meine Emotionalität zulassen und weiterentwickeln?
Ich stellte das Geschirr auf den Tisch, blau und weiß, mit gemalten Blumen, passend zu denen, die Leslie frisch gepflückt hatte.
Eigentlich brauchte ich das nicht zu tun, dachte ich, niemand zwingt mich dazu. Aber wenn ich gerne erfahren möchte, was ich in meiner Kindheit zurückgelassen habe und wie die wiedergefundene Erinnerung meine Gegenwart ändern könnte, ist das dann verwerflich? Wird die Macho-Polizei dann meine Tür aufbrechen und mich verhaften, wegen Verdachts auf mangelnde Coolheit? Wer will mir denn verbieten, ganz unverbindlich durch meine eigene Vergangenheit zu wandeln?
«Zeit für das Abendessen, Wookie«, rief ich laut.
Beim Essen sprachen wir ausgerechnet über Kinder. Ich erzählte ihr, wie stolz ich auf meine war, weil sich jedes von ihnen für seinen individuellen Weg entschieden hatte. Ich verlieh meiner Erleichterung Ausdruck, daß ich selbst kein Kind mehr war. Wie beruhigend, nicht noch einmal diese Phase vor sich zu haben. Für die meisten Menschen sind es doch die rauhesten, grausamsten, schwächsten und verlorensten Jahre ihres Lebens.
«Du hast recht«, bemerkte Leslie, als ich uns zum Nachtisch Erdbeeren hinstellte.»Und es ist eine Schande, daß jedes Kind da allein durch muß.«
8
Schlafen konnte ich immer gut. Ein Gute-Nacht-Kuß für meine Frau, eine Vertiefung in mein Kopfkissen, hineinfallen, und kurz darauf schlafe ich tief.
An diesem Abend nicht. Zwei Stunden, nachdem Leslie in ihre Träume versunken war, starrte ich immer noch an die Holzdecke und durchlebte den Tag zum dreizehnten Mal.
Als ich zum letzten Mal auf die Uhr schaute, war es kurz nach Mitternacht, noch sechs Stunden bis Sonnenaufgang. Am Mittag wollte ich an Daisy, unserer Cessna Skymaster, herumbasteln.
Hoffentlich regnet es morgen, dachte ich in der Dunkelheit. Ich mußte einige Vorkehrungen treffen, damit sich der Rost nicht auf den Fluginstrumenten festsetzte. Zuerst nach Bayview, um dort das ungerichtete Funkfeuer anzupeilen, dann nach Port Angeles wegen des Instrumentenlandesystems…
An Schlaf war nicht zu denken.
Habe ich Angst, daß Dickie mit seinem Flammenwerfer durch die Tür stürmt und mich in meinem Bett einäschert?
Völlig albern. Aber wovor fürchte ich mich denn? Laufe ich denn auch weg, wenn Leslie wütend auf mich ist? Selbstverständlich. Früher allerdings häufiger. Warum scheue ich mich, Dickies Holzverschlag zu betreten? Ich habe ihn dort eingesperrt. Das war natürlich nicht richtig, und es tut mir leid. Ich war mir über die Konsequenzen nicht im klaren. Es war keine Absicht, und nun ist es ja wohl das wenigste, die Tür zu öffnen und ihn herauszulassen, den kleinen imaginären Schelm.
Eine halbe Stunde später, am Rande des Einschlafens, sah ich wieder die Tür, kalt und dunkel wie immer.
Stell dich deinen Ängsten, dachte ich, laß sie herankommen und schlag sie dann nieder, wenn sie dich packen. Ich fürchte mich vor Hirngespinsten, die sich als Höllenqualen tarnen.
Ich hob den Bolzen an, hielt aber die Tür geschlossen.
«Dickie!«rief ich in die Dunkelheit.»Ich bin’s, Richard. Ich wußte nicht, was ich tat, und ich war im Unrecht. Es tut mir schrecklich leid.«