Ungefähr eine Stunde später stiegen wir auf der kleinen Station Marsdon Leigh aus. Am Bahnhof stellten wir fest, daß Marsdon Manor nur ungefähr eine Meile weit weg lag. Poirot wollte kein Taxi nehmen, und so gingen wir die Hauptstraße hinauf.
»Wie steht's mit unserem Kriegsplan?« fragte ich. »Zuerst will ich den Doktor aufsuchen. Es gibt nur einen Arzt in Marsdon Leigh: Dr. Ralph Bernard. Ach, sehen Sie, hier sind wir schon.« Das Landhaus stand in einem Garten etwas abseits der Straße. Auf einem Messingschild stand der Name des Arztes. Wir gingen durch den Garten und läuteten. Wir hatten Glück, Dr. Bernard hatte gerade Sprechstunde, aber es waren keine Patienten da. Der Arzt, ein älterer Mann, war etwas herablassend, aber sympathisch. Poirot stellte uns vor und erklärte den Zweck unseres Besuches; er fügte hinzu, daß die Versicherungsgesellschaft bedauerlicherweise gezwungen wäre, solche Fälle zu überprüfen. »Natürlich, natürlich!« sagte Dr. Bernard. »Ich vermute, er war ein sehr reicher Mann und hoch versichert?« »Sie hielten ihn also für sehr wohlhabend, Dr. Bernard?« Der Arzt sah überrascht auf.
»War er das nicht? Er hatte zwei Autos, außerdem ist Marsdon Manor ein großer Besitz, und die Unterhaltungskosten sind erheblich. Allerdings, glaube ich, hat er das Ganze billig gekauft.« »Ich habe gehört, er hatte in der letzten Zeit beträchtliche Verluste«, sagte Poirot und beobachtete den Arzt genau. Der schüttelte nur bedächtig den Kopf. »So? Dann ist s wenigstens ein Glück für seine Frau, daß diese Lebensversicherung da ist. Eine sehr schöne und charmante junge Frau! Die Geschichte hat sie allerdings sehr mitgenommen. Besteht nur noch aus Nerven, das arme Ding. Ich habe versucht, ihr soviel wie möglich zu helfen, trotzdem hat sie den Schock nicht ganz überwunden.« »Haben Sie Mr. Maltravers kürzlich behandelt?« »Nein, Mr. Maltravers ist niemals mein Patient gewesen.« »Was?«
»Mr. Maltravers war Christian Scientist - oder so was Ähnliches.«
»Aber Sie haben doch die Leiche untersucht?« »Sicher. Ich wurde von einem der Gartenarbeiter geholt.« »Und die Todesursache war klar?«
»Es war Blut auf seinen Lippen, aber die größeren Blutungen müssen innerlich gewesen sein.« »Lag er noch dort, wo er gefunden worden war?«
»Ja, die Leiche war nicht berührt worden. Er lag am Rand einer kleinen Schonung. Wahrscheinlich war er draußen gewesen, um Krähen zu schießen, denn man fand neben ihm eine kleine Flinte. Die Blutung muß ganz plötzlich eingetreten sein - ohne Zweifel kam sie von einem Magengeschwür.« »Besteht keine Möglichkeit, daß er erschossen worden ist?« »Aber - mein lieber Mr. Poirot!«
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Poirot bescheiden. »Aber wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, gab kürzlich in einem Mordfall der Arzt zuerst als Todesursache Herzschlag an, und erst, als der Polizist ihn auf eine Schußwunde am Kopf hinwies, änderte er den Totenschein.« »Sie werden keinerlei Schußwunden an Mr. Maltravers Körper finden«, sagte Dr. Bernard trocken. »Nun, meine Herren, wollen Sie sonst noch etwas ...?« Wir verstanden.
»Guten Morgen und vielen Dank, Doktor, daß Sie unsere Fragen so freundlich beantwortet haben. Übrigens... eine Obduktion hielten Sie nicht für nötig?« »O nein!« Der Arzt wurde lebhaft. »Die Todesursache war klar, und in meinem
Beruf vermeidet man alles, was die Hinterbliebenen unnötig aufregen könnte.« Er drehte sich um und schlug unfreundlich die Tür hinter uns zu.
»Was halten Sie von Dr. Bernard, Hastings?« fragte Poirot, als wir weitergingen. »Ein alter Esel.«
»Richtig! Sie sind in Ihrem Urteil immer recht gründlich, mon ami«
Ich sah ihn von der Seite an, aber er schien es absolut ernst zu meinen. Doch seine Augen zwinkerten, als er freundlich sagte: »Das heißt, wenn es sich nicht um eine schöne Frau handelt!«
Ich sah ihn kritisch an.
Als wir in Marsdon Manor ankamen, öffnete uns ein Hausmädchen mittleren Alters die Tür. Poirot gab ihr seine Visitenkarte und einen Brief der Versicherungsgesellschaft für Mrs. Maltravers. Sie führte uns in ein kleines Frühstückszimmer und ging, um die Dame des Hauses zu benachrichtigen. Es vergingen ungefähr zehn Minuten, dann öffnete sich die Tür und eine schlanke Gestalt in Trauerkleidung erschien. »Mr. Poirot?« sagte sie leise.
»Madame!« Poirot sprang galant auf und verbeugte sich höflich. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich bedauere, Sie in dieser Weise belästigen zu müssen. Aber Sie wissen, es läßt sich leider nicht vermeiden ...« Mrs. Maltravers erlaubte ihm, sie zu einem Stuhl zu führen. Ihre Augen waren vom Weinen stark gerötet, was ihre außergewöhnliche Schönheit nur wenig beeinträchtigte. Sie war ungefähr siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Jahre alt und sehr blond, mit großen, blauen Augen und einem hübschen Schmollmund. »Es handelt sich um die Versicherung meines Mannes, nicht wahr? Muß ich mich jetzt schon darum kümmern - jetzt -, so bald schon?«
»Aber ich bitte Sie, gnädige Frau! Sehen Sie, Ihr Mann hat sein Leben für eine recht große Summe versichert, und in solchen Fällen muß sich die Gesellschaft
über einige Details genau orientieren. Ich bin beauftragt, dies zu tun. Sie dürfen mir glauben, daß ich mich größter Zurückhaltung befleißigen werde. Würden Sie mir kurz die traurigen Ereignisse des vergangenen Mittwochs erzählen?«
»Ich zog mich gerade zum Tee um, als mein Mädchen heraufkam - einer der Gärtner war ins Haus gelaufen... Er hatte ihn gefunden ...«
Ihre Stimme wurde immer leiser. Poirot preßte ihre Hand voller Mitgefühl.
»Ich verstehe. Es ist gut. Sie hatten Ihren Gatten vorher am Nachmittag gesehen?«
»Nach dem Lunch nicht mehr. Ich war ins Dorf hinuntergegangen, um Briefmarken zu kaufen, und ich glaube, er war im Garten.«
»Er schoß Nebelkrähen?«
»Ja, er nahm gewöhnlich seine kleine Flinte mit, und ich hörte einen oder zwei Schüsse aus der Entfernung.« »Wo ist diese kleine Flinte jetzt?« »In der Halle, glaube ich.«
Sie ging mit ihm in die Halle, und Poirot untersuchte die kleine Waffe aufmerksam.
»Zwei Patronen fehlen«, bemerkte er und gab sie zurück. »Und jetzt, Madame, wenn ...« Er machte eine taktvolle Pause.
»Das Mädchen wird Sie führen«, murmelte sie und wandte ihren Kopf ab. Das herbeigerufene Hausmädchen führte Poirot die Treppe hinauf. Ich blieb mit der schönen und unglücklichen Frau zurück. Es war sehr schwierig, herauszufinden, ob sie unterhalten sein oder in Ruhe gelassen werden wollte. Ich versuchte, ein oder zwei allgemeine Betrachtungen anzubringen, aber sie antwortete nur zerstreut, und in wenigen Minuten kam Poirot zu uns zurück.
»Ich danke Ihnen, Madame, für Ihre Freundlichkeit. Ich denke nicht, daß wir Sie weiterhin behelligen müssen. Sind Sie übrigens mit der finanziellen Lage Ihres verstorbenen Gatten vertraut?« Sie schüttelte den Kopf.
»Nicht im geringsten. Ich bin in allen geschäftlichen Dingen sehr unerfahren.« »Ich verstehe. Dann können Sie uns also auch nicht sagen, weshalb Ihr Gatte sich so plötzlich entschloß, eine Lebensversicherung abzuschließen? Er hatte früher nie daran gedacht, wie ich weiß.«
»Doch. Wir waren zwar nur etwas über ein Jahr verheiratet, aber ich kenne die Beweggründe, warum er sich versichern ließ. Er war überzeugt daß er nicht mehr lange leben würde. Er ahnte seinen frühen Tod. Ich erfuhr, daß er schon einmal eine Blutung gehabt hatte, und er wußte, daß eine Wiederholung gefährlich werden konnte. Ich versuchte immer, seine düsteren Befürchtungen zu zerstreuen, aber ohne Erfolg. Ach, er hatte nur zu recht!«