Tressilian verschwand und meldete kurze Zeit später Mr Farr.
Stephen Farr trat nervös ein, versuchte das aber durch ein betont forsches Gehabe zu verstecken. Sein leichter Südafrika-Akzent klang noch deutlicher durch als zuvor.
«Ich freue mich, Sie zu sehen», rief ihm Simeon Lee entgegen. «Also Sie sind Ebs Sohn?»
Stephen lachte verlegen. «Mein erster Besuch im Mutterland. Vater hat mir immer gesagt, ich sollte Sie aufsuchen, wenn ich einmal herüberkäme.»
«Bravo! Darf ich bekannt machen? Meine Enkelin – Pilar Estravados.»
«Sehr erfreut», sagte Pilar unbefangen.
Raffinierte kleine Hexe, dachte Farr. Sie ist überrascht, mich wiederzusehen, aber sie kann es großartig verbergen.
Er sagte bedeutungsvolclass="underline" «Ich bin glücklich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Estravados.»
«Setzen Sie sich, und erzählen Sie mir von sich», befahl der alte Lee. «Bleiben Sie lange in England?»
«Nun, ich werde mir Zeit lassen, wenn ich jetzt schon mal hier bin.» Er lachte und warf den Kopf zurück.
«Da haben Sie Recht. Sie müssen vorerst eine Weile bei uns bleiben.»
«Aber Sir, ich kann doch nicht einfach so hereinschneien. Es ist schließlich Weihnachten und…»
«Sie werden Weihnachten bei uns verbringen – wenn Sie nichts anderes vorhaben. Nein? Gut, dann ist das abgemacht. Pilar! Geh und sag Lydia, dass wir noch einen weiteren Gast haben. Sie soll heraufkommen.»
Pilar ging. Stephen sah ihr nach. Simeon beobachtete es mit diebischem Vergnügen.
Bald waren die beiden Männer in ein Gespräch über Südafrika vertieft. Lydia trat ein paar Minuten später ein.
«Das ist Stephen Farr, der Sohn meines alten Freundes Ebenezer Farr. Er wird über Weihnachten bei uns bleiben. Bitte lass ihm ein Zimmer richten.»
Lydia lächelte. «Selbstverständlich, gerne.» Sie betrachtete den Fremden, seine bronzefarbene Haut, die blauen Augen und den leicht nach hinten geworfenen Kopf.
«Meine Schwiegertochter», stellte Simeon vor.
«Es ist mir gar nicht recht, dass ich derart ins Haus platze», sagte Stephen, «mitten in ein Familienfest –»
«Sie gehören zur Familie, mein Lieber», unterbrach der alte Lee seine Entschuldigungen, «merken Sie sich das.»
«Sie sind zu gütig, Sir.»
Pilar war wieder hereingekommen. Sie ließ sich gelassen neben dem Feuer nieder und nahm ihren Fächer auf. Geschmeidig bewegte sie ihn aus dem Handgelenk hin und her. Ihre Augen waren niedergeschlagen, und sie sah sehr sittsam aus.
24. Dezember
«Willst du wirklich, dass ich hier bleibe, Vater?», fragte Harry. Er warf den Kopf zurück. «Ich stochere hier nämlich in einem Wespennest herum, weißt du.»
«Inwiefern?», fragte Simeon Lee scharf.
«Bruder Alfred», antwortete Harry, «mein lieber Bruder Alfred missbilligt meine Anwesenheit.»
«Soll er doch, zum Teufel», schnaubte Simeon. «Ich bin hier Herr im Haus!»
«Trotzdem, alter Herr. Du bist irgendwie von Alfred abhängig. Ich will ihn nicht aufbringen.»
«Du wirst tun, was ich dir befehle!»
Harry gähnte. «Ich weiß auch gar nicht, ob ich es aushalten werde, ein häusliches Leben zu führen. Kommt einen Menschen ziemlich hart an, wenn er bis dahin dauernd in der Welt herumgestoßen worden ist.»
«Du solltest heiraten und dich sesshaft machen.»
«Wen sollte ich heiraten? Schade, dass man nicht seine Nichte heiraten kann. Die kleine Pilar ist bezaubernd.»
«Das hast du also doch bemerkt?»
«Apropos: sesshaft werden. Unser dicker George scheint gar keine schlechte Wahl getroffen zu haben, was? Wo kommt seine Frau her? Was war sie früher?»
«Was weiß denn ich», brummte der Alte. «Ich glaube, George hat sie bei einer Modenschau als Mannequin entdeckt. Sie behauptet, ihr Vater sei ein pensionierter Marineoffizier.»
«Wahrscheinlich zweiter Maat auf einem Küstendampfer», grinste Harry. «George könnte noch seine Wunder mit ihr erleben, wenn er nicht vorsichtig ist!»
Simeon zuckte die Achseln. Dann griff er plötzlich nach der Klingel, die auf dem Tisch neben ihm stand. Horbury erschien augenblicklich.
«Bitten Sie Mr Alfred, sofort herzukommen!»
Sobald der Diener verschwunden war, fragte Harry gedehnt: «Horcht der Bursche eigentlich an der Tür?»
Wieder hob Simeon die Schultern und ließ sie fallen.
Alfred kam eilends herein. Als er seinen Bruder sah, zuckte er leicht zusammen.
«Setz dich, Alfred», befahl der Alte. «Wir müssen unseren Haushalt ein wenig umorganisieren, nachdem wir nun zwei Familienmitglieder mehr haben werden. Pilar bleibt selbstverständlich jetzt bei uns, und auch Harry hat sich entschlossen, daheim zu bleiben.»
«Harry wird hier wohnen?», fragte Alfred starr.
«Ja, warum nicht, alter Knabe?», lachte Harry.
Alfred fuhr herum und sah ihn zornig an. «Mich dünkt, das solltest du selber spüren!»
«Ich bedaure unendlich, aber ich spüre gar nichts.»
«Nach allem, was geschehen ist? Nach deinem schandbaren Verhalten? Nach dem Skandal?»
«Aber, aber das ist doch längst vergangen, Bruderherz!»
«Du hast dich Vater gegenüber abscheulich benommen!»
«Nun hör mich mal an, Alfred! Das geht nur Vater etwas an, nicht wahr? Wenn er bereit ist, mir zu vergeben –»
«Jawohl, dazu bin ich bereit», mischte sich Simeon ein. «Harry ist mein Sohn, und er wird hier bleiben, weil ich es will.» Er legte Harry liebevoll die Hand auf die Schulter. «Ich habe Harry sehr gerne!»
Alfred stand auf und ging aus dem Zimmer. Er war totenblass. Harry erhob sich ebenfalls und ging ihm lachend nach. Simeon kicherte vor sich hin. Dann schreckte er zusammen und sah sich um. «Wer zum Teufel ist da? Ach, Sie sind es, Horbury! Schleichen Sie doch nicht so herum!»
«Verzeihen Sie, Sir.»
«Schon gut. Übrigens habe ich Aufträge für Sie. Ich wünsche, dass nach dem Mittagessen alle zu mir kommen. Alle, verstanden? Und noch etwas: Sie werden die Herrschaften heraufführen, und sobald Sie ungefähr in der Mitte des Korridors angekommen sind, werden Sie sich irgendwie bemerkbar machen, husten, etwas rufen, was Sie wollen. Ist das klar?»
«Gewiss, Sir.» Horbury ging die Treppe hinunter. Dort sagte er zu Tressilian: «Wenn Sie mich fragen – das wird ein schönes Weihnachtsfest werden!»
«Was wollen Sie damit sagen?», fragte der alte Diener scharf.
«Na, warten Sie’s ab. Heute ist Heiliger Abend. Aber die Stimmung im Haus ist gar nicht danach.»
Als sie ins Zimmer kamen, war Simeon gerade am Telefon; er winkte ihnen, einzutreten.
«Setzt euch! Ich bin gleich fertig.» Dann telefonierte er weiter: «Ist dort Charlton? Hier spricht Simeon Lee. Ja, nicht wahr? Ja. Nein, ich möchte nur, dass Sie ein neues Testament für mich aufsetzen. Jawohl, die Verhältnisse haben sich geändert, so dass mein erstes Testament überholt ist. Nein, nein, so eilt es auch wieder nicht. Weihnachten will ich Ihnen doch nicht verderben. Sagen wir, am zweiten Weihnachtstag, ja? Oder am Tag danach, wie Sie wollen. Kommen Sie zu mir, dann besprechen wir alles. Nein, keine Angst, ich werde nicht vorher sterben.»
Er legte den Hörer auf und sah seine Familie, alle acht Anwesenden, der Reihe nach an. Dann lachte er und sagte:
«Ihr seht alle so verdattert aus! Was ist denn los?»
«Du hast uns rufen lassen, Vater –», begann Alfred, doch Simeon unterbrach ihn sofort.
«Ja, richtig. Aber es ist eigentlich nichts Wichtiges. Ich bin nur müde und möchte nach dem Abendessen allein sein. Ich will früh zu Bett gehen, damit ich morgen zum Fest ganz frisch bin. Eine großartige Einrichtung, Weihnachten. Fördert das Zusammengehörigkeitsgefühl, nicht wahr, Magdalene?»
Magdalene Lee fuhr zusammen. Ihr dümmlicher kleiner Mund klappte auf und schloss sich wieder. Dann sagte sie: «O ja.»