Simeons Augen schweiften zu George.
«Ich will zwar nicht von unerfreulichen Dingen reden, aber ich fürchte, George, dass ich deinen Zuschuss ein wenig werde beschneiden müssen. Mein Haushalt wird mich in Zukunft etwas teuer zu stehen kommen.»
George wurde dunkelrot. «Aber Vater! Das kannst du doch nicht tun!»
«Ach, glaubst du?», fragte Simeon sanft.
«Meine Auslagen sind sehr groß. Ich weiß schon jetzt manchmal kaum, wie ich mit meinem Geld zurechtkommen soll. Ich muss mich an allen Ecken und Enden einschränken.»
«Überlass die Sparsamkeit doch deiner Frau», riet der alte Lee lächelnd. «Frauen sind so geschickt im Sparen. Ihnen fallen oft Sparmöglichkeiten ein, die ein Mann einfach übersieht. Zum Beispiel könnte sie ihre Kleider selber machen. Meine Frau hat alles selber gemacht, war sehr geschickt in allen Handarbeiten – eine gute Frau war sie, wirklich, nur langweilig -»
David sprang auf. «Meine Mutter -»
«Setz dich!», sagte Simeon barsch. «Deine Mutter hatte ein Hasenherz und ein Hühnerhirn. Und ich glaube, beides hat sie euch allen vererbt.» Er erhob sich plötzlich. Auf seinen Wangen bildeten sich rote Flecken, und seine Stimme klang nun laut und schrill. «Keiner von euch ist einen Penny wert! Keiner! Ich habe so genug von euch allen! Schwächlinge seid ihr – alberne Schwächlinge! Pilar ist mehr wert als zwei von euch zusammengenommen. Ich schwöre zu Gott, dass ich irgendwo auf der Welt einen besseren Sohn habe, auch wenn er vielleicht nicht im rechten Ehebett geboren ist.»
«Jetzt ist es genug, Vater!», rief Harry.
Er war aufgesprungen, und über sein sonst heiteres Gesicht legte sich Zornesröte.
«Das alles gilt ebenso gut für dich!», schnauzte Simeon ihn an. «Was hast du denn jemals getan? Mich dauernd um Geld angewinselt! Mich aus allen vier Himmelsrichtungen angebettelt! Ich sag euch noch einmaclass="underline" Ich habe genug von euch allen! Hinaus!»
Der alte Lee sank in seinen Stuhl zurück. Langsam, eines nach dem anderen, verließen seine Kinder das Zimmer. George war rot und entsetzt, Magdalene sah erschrocken aus, David war leichenblass und zitterte, Harry trug den Kopf hoch, und Alfred schob sich wie ein Traumwandler Schritt für Schritt vorwärts. Lydia folgte ihm, sicher, gefasst, wie immer. Nur Hilda blieb auf der Schwelle stehen und ging dann zu ihrem Schwiegervater zurück. Die Art, wie sie ruhig und unbeweglich dicht vor seinem Sessel stehen blieb, hatte etwas Drohendes.
«Als dein Brief kam», sagte sie, «habe ich wirklich geglaubt, was darin stand: dass du zu Weihnachten deine Familie um dich haben wolltest. Und darum habe ich David überredet, herzukommen. Aber du willst deine Kinder nur hier haben, um sie alle bei den Ohren zu nehmen, nicht wahr? Weiß Gott, was dir daran Spaß macht.»
Simeon kicherte. «Ich habe eben von jeher einen ganz besonderen Sinn für Humor gehabt. Ich verlange gar nicht, dass man ihn versteht! Ich amüsiere mich!»
Da sie nichts erwiderte, begann Simeon sich plötzlich unbehaglich zu fühlen.
«Nun, was sagst du dazu?», fragte er scharf.
«Ich fürchte…» Dann stockte sie.
«Was fürchtest du? Mich?»
«Nein, ich fürchte für dich», entgegnete sie. Wie ein Richter, der eben ein Urteil gefällt hatte, wandte sie sich um und schritt langsam, schwer aus dem Zimmer.
Simeon starrte die Tür an, durch die sie verschwunden war. Dann stand er auf und ging zu seinem Safe hinüber. Er murmelte: «Sehen wir uns lieber meine Schönen an.»
Um ungefähr ein Viertel vor acht Uhr klingelte es an der Tür. Tressilian öffnete. Als er in die Küche zurückkam, stand dort Horbury, der Kaffeetassen von einem Servierbrett nahm.
«Wer war das?», fragte Horbury.
«Polizeiinspektor Sugden – Mensch, passen Sie doch auf!»
Aber schon hatte Horbury eine der Tassen fallen lassen, sie zersplitterte auf dem Boden.
«Sehen Sie sich das an», jammerte Tressilian. «Elf Jahre lang haben wir dieses Service nun schon, immer habe ich es abgewaschen, und nie ist eine Tasse zerbrochen! Und kaum rühren Sie etwas an, wovon Sie überhaupt die Finger lassen sollen, und schon passiert’s.»
«Es tut mir außerordentlich Leid, Mr Tressilian», entschuldigte sich der andere. Große Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn. «Ich weiß gar nicht, wie das geschehen konnte. Sagten Sie, ein Polizeiinspektor habe vorhin geläutet?»
«Ja – Mr Sugden.»
Der Diener befeuchtete seine bleichen Lippen. «Was… was wollte er?»
«Er sammelt für das Polizeiwaisenhaus. Ich habe das Sammelbuch Mr Lee hinaufgebracht, aber er hat mir befohlen, Mr Sugden zu ihm zu schicken und Sherry bereitzustellen.»
«Nichts als Bettelei um diese Jahreszeit», bemerkte Horbury. «Der alte Teufel ist freigebig, das muss man sagen, trotz seiner anderen Schwächen!»
«Mr Lee war von jeher sehr großzügig», antwortete Tressilian würdevoll.
Horbury nickte. «Jawohl, das ist seine beste Seite. Nun, ich gehe jetzt.»
«Ins Kino?»
«Wahrscheinlich. Bye-bye, Mr Tressilian.»
Er verschwand durch die Tür, die in den Aufenthaltsraum der Dienstboten führte.
Tressilian sah auf die Wanduhr. Dann ging er ins Speisezimmer und legte auf jede Serviette ein Brötchen. Nach einem letzten prüfenden Blick über die lange Tafel trat er zum Gong und läutete.
Während der letzte Ton verklang, kam Inspektor Sugden die Treppe herunter. Er war ein großer, gut aussehender Mann, trug einen eng geknöpften blauen Anzug und bewegte sich etwas wichtigtuerisch.
«Ich glaube, wir bekommen Frost heute Nacht», sagte er leutselig. «Glücklicherweise, denn das Wetter war ja unnatürlich warm in der letzten Zeit.»
Tressilian bemerkte, dass die Feuchtigkeit seinen Rheumatismus fördere, worauf der Inspektor feststellte, Rheumatismus sei eine sehr schmerzhafte Sache, und dann mit einem freundlichen Gruß ging.
Der alte Butler sperrte die Haustür hinter ihm wieder ab und ging langsam in die Halle zurück. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und seufzte. Doch als er Lydia ins Wohnzimmer gehen sah, richtete er sich steif auf. George Lee kam eben die Treppe herunter. Sobald der letzte Gast, Magdalene, im Wohnzimmer verschwunden war, trat Tressilian ein und murmelte:
«Das Nachtessen ist serviert.»
Tressilian war in seiner Art ein Kenner von Damenmode. Wenn er, die Weinflasche in der Hand, jeweils um den Tisch ging und die Gläser nachfüllte, betrachtete und kritisierte er insgeheim die Kleider der Damen. Mrs Alfred trug ihr neues weiß-schwarzes Taftkleid mit den großen Blumen. Ein sehr auffälliger Stoff, aber sie konnte ihn tragen. Mrs George trug ein Designerkleid, dessen war er ganz sicher. Musste eine Menge Geld gekostet haben. Mrs David… nun, sie war eine reizende Frau, aber sie verstand es wirklich nicht, sich anzuziehen. Bei ihrer Figur wäre schwarzer Samt eventuell noch angegangen; doch sie trug einen bunten, vorwiegend knallroten Stoff, und das war entschieden eine Geschmacklosigkeit. Miss Pilar konnte tragen, was sie wollte, sie sah in allem bezaubernd aus. Immerhin war ihr weißes, leichtes Kleidchen doch wohl ein bisschen gar zu billig. Nun – dem würde Mr Lee ja in Zukunft abhelfen! Er war ja förmlich verliebt in seine Enkelin. So waren ältere Herren nun einmaclass="underline" Ein junges, frisches Gesicht verhexte sie!
«Weißwein oder Rotwein?», flüsterte Tressilian Mrs George ins Ohr. Dabei beobachtete er aus dem Augenwinkel, wie Walter, der zweite Diener, schon wieder das Gemüse vor der Bratensauce servierte – nach allem, was er ihm eingeschärft hatte!
Tressilian reichte das Souffle herum. Nun, da sein Interesse an den Kleidern der Damen und Walters Ungeschicklichkeiten abgeflaut war, fiel ihm erst auf, wie still heute Abend jedermann war. Das heißt, nicht eigentlich still. Der südafrikanische Herr zum Beispiel redete für drei, und auch die anderen Herrschaften sprachen miteinander, aber alles wirkte so krampfhaft. Es herrschte eine seltsame Atmosphäre.