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«Nein, da irrst du dich, ganz bestimmt! Er hat mir oft gesagt, wie reizend du immer zu ihm seist.»

«Natürlich bin ich höflich zu ihm, werde es immer sein. Meine ehrlichen Gefühle sage ich nur dir. Ich kann deinen Vater nicht ausstehen, Alfred. Für mich ist er ein alter, tyrannischer, böser Mann. Dich schüchtert er einfach ein und erwartet dafür noch deine Kindesliebe. Schon vor Jahren hättest du dich dagegen auflehnen sollen.»

«Das genügt, Lydia.», sagte Alfred scharf. «Bitte, red nicht mehr in diesem Ton weiter.»

Sie seufzte. «Verzeih, vielleicht habe ich Unrecht. Also, sprechen wir von den Weihnachtsvorbereitungen. Glaubst du, dass dein Bruder David wirklich kommt?»

«Warum nicht?»

Sie wiegte zweifelnd den Kopf hin und her. «David ist ein komischer Kauz. Er hat so sehr an eurer Mutter gehangen - und jetzt mag er das Haus nicht mehr leiden.»

«David ist Vater immer auf die Nerven gegangen», sagte Alfred, «mit seiner Musik und seinen Träumereien. Dabei war Vater sicher manchmal zu streng mit ihm. Aber ich glaube, dass Hilda und David dennoch kommen werden. Wegen Weihnachten, weißt du?»

«Friede und den Menschen ein Wohlgefallen.», zitierte Lydia ironisch. «Wir werden ja sehen. Magdalene und George kommen jedenfalls, wahrscheinlich morgen, haben sie geschrieben. Ich fürchte, Magdalene wird sich entsetzlich langweilen.»

«Warum mein Bruder ein Mädchen heiraten musste, das zwanzig Jahre jünger ist als er», warf Alfred ein wenig gereizt ein, «wird mir ewig ein Rätsel bleiben. George ist und bleibt ein Narr.»

«Aber er macht Karriere», sagte Lydia. «Seine Wähler lieben ihn. Ich glaube, dass Magdalene ihm bei seiner politischen Arbeit ziemlich viel hilft.»

«Ich mag sie nicht sonderlich», murmelte Alfred. «Sie sieht sehr gut aus, aber manchmal werde ich das Gefühl nicht los, sie sei wie eine jener Birnen mit der rosigen Haut und dem flaumigen Schimmer…» Er brach ab.

«Die innen dann faul sind?», beendete Lydia seinen Satz fragend. «Komisch, dass du das sagst. Du bist doch sonst so umgänglich und sagst nie etwas Abfälliges über jemanden. Manchmal regt mich das förmlich auf, weil mich dünkt, du seist nicht – wie soll ich mich ausdrücken –, nicht misstrauisch, nicht weltgewandt genug!»

Ihr Gatte lächelte. «Die Welt, glaube ich, ist immer so, wie man sie selber sieht.»

«Nein», antwortete Lydia scharf. «Das Böse lebt nicht nur in unseren Gedanken. Das Böse existiert. Du scheinst das nicht zu wissen – ich weiß es! Ich fühle es, habe es immer gefühlt – in diesem Haus…» Sie biss sich auf die Lippen und wandte sich ab.

Doch ehe Alfred etwas antworten konnte, hob sie warnend die Hand und sah über seine Schulter. Hinter Alfred stand ein dunkler Mann mit glatt rasiertem Gesicht in ehrerbietiger Haltung.

«Was gibt’s, Horbury?», fragte Lydia kurz.

Horbury sprach sehr leise, so dass es eher ein Murmeln war.

«Mr Lee hat mir aufgetragen, Ihnen auszurichten, Madame, dass noch zwei weitere Gäste zum Weihnachtsfest kommen, und Sie zu bitten, Zimmer für sie bereitmachen zu lassen.»

«Zwei weitere Gäste?»

«Jawohl, Madame – ein Herr und eine junge Dame.»

«Eine junge Dame?», fragte Alfred verwundert.

«So hat es mir Mr Lee aufgetragen», bestätigte Horbury.

«Ich gehe zu ihm hinauf», sagte Lydia schnell.

Doch eine kleine, kaum wahrnehmbare Bewegung von Horbury, die Andeutung eines Schritts nach vorn, hielt sie auf.

«Verzeihung, Madame, aber Mr Lee hält gerade sein Nachmittagsschläfchen. Er wünschte ausdrücklich, nicht gestört zu werden.»

«Ach so», fiel Alfred ein, «dann werden wir ihn selbstverständlich nicht wecken.»

«Danke, Sir.» Horbury ging hinaus.

«Wie ich den Kerl hasse!», brach Lydia aus. «Schleicht durch das Haus wie eine Katze. Nie hört man ihn kommen oder gehen.»

«Mir ist er auch nicht sympathisch, aber er versteht seinen Beruf. Es ist gar nicht so leicht, einen guten Diener und Krankenpfleger zu finden. Und Vater hat ihn gern, das ist die Hauptsache.»

«Das ist die Hauptsache, sehr richtig! Aber wer kann die junge Dame sein, Alfred?»

«Keine Ahnung. Ich kann es mir wirklich nicht vorstellen.»

Eine Weile blickten sich die beiden schweigend an. Dann kräuselten sich Lydias ausdrucksvolle Lippen ein wenig. «Weißt du, was ich glaube, Alfred? Vermutlich hat sich dein Vater in letzter Zeit ziemlich gelangweilt, und nun plant er irgendeine Weihnachtsüberraschung für sich.»

«Indem er zwei Fremde zu einem Familienfest einlädt?»

«Nun, die Einzelheiten kenne ich nicht, aber ich habe das Gefühl, dass dein Vater Abwechslung sucht.»

«Hoffentlich macht ihm die Sache dann auch wirklich Spaß», sagte Alfred ernst. «Armer alter Mann, und erst noch invalide - nach dem abenteuerlichen Leben, das er früher geführt hat.»

«Nach dem abenteuerlichen Leben, das er früher geführt hat», wiederholte Lydia langsam. Die Pause, die sie vor dem Eigenschaftswort machte, gab dem Satz eine besondere, düstere Bedeutung. Alfred schien das zu spüren, denn er errötete und sah unglücklich aus.

Sie rief plötzlich unbeherrscht: «Wie er jemals einen Sohn wie dich haben konnte, ist mir schleierhaft! Ihr seid zwei vollkommen entgegengesetzte Pole! Und dabei fasziniert er dich, du verehrst ihn!»

Alfred war nun wirklich verärgert. «Du gehst ein bisschen zu weit, Lydia. Es ist natürlich, dass ein Sohn seinen Vater liebt. Unnatürlich wäre nur, wenn er das nicht täte.»

«Dann sind die meisten Mitglieder dieser Familie unnatürlich», sagte Lydia langsam. «Ach, entschuldige, jetzt habe ich deine Gefühle verletzt, ich weiß! Das wollte ich nicht, Alfred, bitte glaub mir das. Ich bewundere dich sehr um deiner, deiner Treue willen. Treue ist sehr selten in unseren Tagen. Vielleicht bin ich eifersüchtig! Man sagt doch, Frauen seien immer auf ihre Schwiegermütter eifersüchtig – warum nicht auch auf ihre Schwiegerväter?»

Er legte zärtlich den Arm um sie. «Deine Zunge geht wieder einmal mit dir durch, Liebling. Du hast weiß Gott keine Ursache, eifersüchtig zu sein.»

Sie küsste ihn schnell und reuevoll auf das Ohrläppchen. Es war eine zarte Liebkosung.

«Ich weiß, Alfred. Und dennoch glaube ich, dass ich auf deine Mutter nie eifersüchtig gewesen wäre. Ich wünschte, ich hätte sie gekannt.»

Er seufzte. «Sie war eine arme Kreatur.»

Seine Frau sah ihn groß an. «So hast du sie gesehen, als eine arme Kreatur. Seltsam.»

«Ich habe sie fast nur krank gekannt», sagte er verträumt. «Sie hat viel geweint.» Er schüttelte den Kopf. «Nein, sie hatte keinen Mut.»

Noch immer sah sie ihn voll an und murmelte leise: «Merkwürdig…»

Aber als er sich ihr fragend zuwandte, wechselte sie das Thema. «Wenn wir also nicht erfahren dürfen, wer unsere geheimnisvollen Gäste sind, dann gehe ich hinaus und mache meine Gartenarbeit fertig.»

«Es ist sehr kalt, Liebling, der Wind ist eisig.»

«Ich werde mich warm anziehen.»

Alfred sah ihr nach, als sie hinausging, blieb eine Weile reglos stehen, in tiefes Nachdenken versunken, und trat dann an das große Fenster. Eine Terrasse zog sich an der Längsseite des Hauses hin. Nach ein, zwei Minuten erschien Lydia, in einen dicken Wollmantel gehüllt, einen flachen Korb in der Hand, und machte sich an einer kleinen, viereckigen Grube zu schaffen. Ihr Mann sah ihr einen Augenblick zu. Dann verließ auch er das Zimmer, holte sich einen Mantel und ging seinerseits durch eine Seitentür auf die Terrasse hinaus. Während er zu Lydia hinüberging, kam er an zahlreichen steinumrandeten Erdvertiefungen vorbei, lauter kleinen Miniaturgärten, die alle das Werk von Lydias geschickten Händen waren.

Einer davon stellte eine Wüstenlandschaft dar: gelber Sand, ein kleiner Palmenhain, eine Kamelkarawane mit zwei winzigen arabischen Treibern. Aus Plastilin waren Lehmhütten nachgebildet worden. Dann gab es einen italienischen Garten mit Terrassen und kunstvollen Blumenbeeten, in denen eine ganze Blütenpracht aus Siegellack-Blumen leuchtete. Ein anderer der kleinen Gärten zeigte eine Polarlandschaft mit grünen Glasstücken als Eisberge und Gruppen von Pinguinen. Auch ein japanischer Garten fehlte nicht: Kleine, verkrüppelte Bäumchen standen darin, Glasscheiben stellten Teiche dar, über die sich Brücken schwangen, von Lydia ebenfalls aus Plastilin angefertigt.