Sie kniff die Augen zusammen: «Dein Vater ist nicht, ist kein sehr achtbarer Mann, George, nicht wahr?» – «Ich bitte dich, Magdalene!»
«Manchmal sagt er Dinge, die mir ziemlich wider den Strich gehen, das kannst du mir glauben.»
«Magdalene! Wirklich! Denkt Lydia auch so wie du?»
«Mit Lydia redet er ganz anders», fuhr Magdalene gereizt auf. «Sie verschont er mit seinen sonderbaren Bemerkungen, obwohl ich nicht einsehe, weshalb!»
George sah sie rasch an und blickte sofort wieder weg.
«Nun», sagte er ausweichend, «wir müssen nachsichtig sein. Vater wird alt, und seine Gesundheit ist auch nicht die beste.»
«Ist er wirklich sehr krank?», fragte sie.
«Das möchte ich nicht sagen. Er ist ungemein zäh. Aber wenn er nun einmal zu Weihnachten seine Familie um sich sehen will, dann finde ich, dass wir seiner Bitte entsprechen sollten. Es könnte doch sein letztes Weihnachtsfest sein.»
«Sagst du, George», fiel sie scharf ein, «aber ich glaube, dass er noch Jahre zu leben hat.»
Verwirrt, beinahe erschrocken, stotterte George: «Ja, ja, natürlich. Bestimmt kann er noch lange leben.»
«Na, dann werden wir wohl gehen müssen», murmelte Magdalene verstimmt. «Es wird qualvoll sein. Alfred ist wortkarg und stumpf, und Lydia sieht auf mich herab. Doch, das tut sie. Und dann hasse ich diesen grässlichen Diener.»
«Den alten Tressilian?»
«Nein, Horbury. Der ewig im Haus herumschleicht und schnüffelt. Ich kann dir nicht sagen, wie sehr mir das auf die Nerven geht. Aber wir werden eben hinfahren. Ich möchte den alten Mann nicht beleidigen.»
«Siehst du. Und wegen dem Weihnachtsessen für die Dienstboten –»
«Das hat jetzt Zeit, George. Ich werde Lydia anrufen und ihr sagen, dass wir morgen um fünf Uhr zwanzig ankommen.»
Magdalene ging schnell aus dem Zimmer. Nachdem sie telefoniert hatte, setzte sie sich vor ihren Schreibtisch und kramte in den vielen kleinen Schubladen herum. Aus jeder einzelnen zog sie Rechnungen – ganze Berge von Rechnungen. Erst versuchte sie, die verschiedenen Formulare und Blätter zu ordnen; doch bald gab sie das mit einem ungeduldigen Seufzer auf und warf die Papiere wieder in ihre Fächer zurück. Sie fuhr sich mit der Hand über das platinblonde Haar.
«Was um alles in der Welt soll ich nur tun?», murmelte sie.
Im ersten Stock von Gorston Hall führte ein langer Korridor zu dem großen Raum oberhalb des Haupteingangs. Es war ein unwahrscheinlich reich und altmodisch eingerichtetes Zimmer. Die schweren Brokattapeten, die riesigen Lederfauteuils, die großen, mit Drachenmustern verzierten Vasen und die Bronzeskulpturen, alles mutete großartig, kostbar und stabil an.
Im größten und imposantesten aller Stühle, einem alten Großvaterlehnstuhl, saß ein magerer alter Mann. Seine langen, klauenartigen Hände lagen auf den Armlehnen. Ein Stock mit Goldknauf stand neben ihm. Bekleidet war er mit einem alten, abgeschabten Schlafrock, und dazu trug er bestickte Pantoffeln. Über dem gelblichen Gesicht leuchteten schlohweiße Haare.
Eine armselige, unbedeutende Erscheinung, mochte man im ersten Moment denken. Aber die stolze Adlernase, die dunklen, lebhaften Augen mussten einen Beobachter bald eines Besseren belehren. In diesem Menschen waren Feuer, Leben und Kraft. Der alte Simeon Lee kicherte plötzlich amüsiert vor sich hin.
«Sie haben es Mrs Alfred also ausgerichtet?»
Horbury stand neben dem Lehnstuhl. Er antwortete in seinem weichen, ehrerbietigen Tonfalclass="underline" «Jawohl, Sir.»
«Ganz genauso, wie ich es Ihnen aufgetragen habe? Hören Sie: genauso?»
«Gewiss, ich habe bestimmt keinen Fehler gemacht.»
«Nein, Sie machen keine Fehler. Ich würde es Ihnen auch nicht raten. Und? Was sagte sie, Horbury? Was sagte Mrs Alfred?»
Ruhig, ungerührt wiederholte Horbury, welchen Effekt seine Botschaft ausgelöst hatte. Der alte Mann lachte und rieb sich vergnügt die Hände.
«Großartig! Nun werden sie sich den ganzen Nachmittag die Köpfe zerbrochen haben. Ausgezeichnet! Jetzt können sie heraufkommen.»
Horbury machte kehrt und ging lautlos zur Tür. Als der alte Mann ihm noch etwas sagen wollte, war er bereits im Korridor verschwunden.
«Der Kerl bewegt sich wie eine Katze», brummte Simeon Lee. «Man weiß nie, ob er noch da ist oder schon draußen.»
Er saß still in seinem Stuhl und strich sich über die Wange, bis ein Klopfen ertönte und Alfred und Lydia eintraten.
«Ach, da seid ihr ja! Komm, Lydia, meine Beste, setz dich zu mir. Was für rosige Wangen du hast.»
«Ich war draußen, in der Kälte. Da brennt einem nachher das ganze Gesicht.»
«Wie geht’s dir, Vater?», fragte Alfred. «Hast du gut geschlafen?»
«Sehr gut, sehr gut. Ich habe von alten Zeiten geträumt, von meinem Leben, bevor ich eine Stütze der Gesellschaft wurde und mich häuslich niederließ.»
Er lachte laut auf. Seine Schwiegertochter verzog den Mund zu einem höflich-aufmerksamen Lächeln.
«Vater, was bedeutet das, dass zwei weitere Gäste zum Fest kommen?», fragte Alfred.
«Ja, richtig! Das muss ich euch ja erklären. Es soll ein grandioses Weihnachtsfest werden. Also: George und Magdalene kommen. Armer George, korrekt, steif, und doch nur ein aufgeblasener Ballon. Immerhin ist er mein Sohn. Seine Wähler lieben ihn, weil sie wahrscheinlich denken, er sei ehrlich. Noch nie war ein Lee wirklich ehrlich. Mit Ausnahme von dir, mein Junge, selbstverständlich mit Ausnahme von dir.»
«Und David?», fragte Lydia.
«David? Ich bin gespannt, ihn nach all den Jahren wiederzusehen. Er war ein exaltiertes Kind. Ich frage mich, wie seine Frau aussieht. Jedenfalls hat er nicht ein Mädchen geheiratet, das zwanzig Jahre jünger ist als er, wie dieser Narr George.»
«Hilda hat einen sehr netten Brief geschrieben», schaltete sich Lydia hier ein, «und eben kam ein Telegramm, das ihre Ankunft für morgen Nachmittag bestätigt.»
Ihr Schwiegervater sah sie scharf und durchdringend an. Dann lachte er. «Dich werde ich nie aus der Fassung bringen können, Lydia. Ich meine das als Kompliment. Du bist sehr wohlerzogen, und Erziehung ist wichtig, das weiß ich. Aber Vererbung ist geheimnisvoller. Nur eines meiner Kinder ist mir wirklich nachgeraten, nur eines von der ganzen Brut.»
Seine Augen funkelten.
«Erratet jetzt, wer noch kommt. Dreimal dürft ihr raten, aber ich wette, dass ihr nicht draufkommt.»
Er sah von einem zum anderen. Alfred runzelte die Stirn. «Horbury sagte, dass du eine junge Dame erwartest.»
«Und das beunruhigt euch jetzt, wie? Pilar wird gleich hier sein. Ich habe bereits den Wagen geschickt, damit man sie vom Bahnhof abholt.»
«Pilar?», fragte Alfred scharf.
«Ja, Pilar Estravados – Jennifers Tochter. Meine Enkelin. Ich bin so neugierig, wie sie aussieht.»
«Um Himmels willen, Vater, du hast mir nie gesagt…»
«Um dir die Überraschung nicht zu verderben, lieber Sohn», erwiderte der alte Lee mit einem bösen Grinsen. «Ich weiß schon kaum mehr, wie es ist, wenn junges Blut unter diesem Dach lebt. Ihn, Estravados, habe ich nie gesehen. Ob die Kleine wohl ihm nachschlägt oder ihrer Mutter?»
«Hältst du es wirklich für klug», begann Alfred wieder, «angesichts der Umstände –»
Der alte Mann unterbrach ihn.
«Sicherheit! Sicherheit! Du suchst immer und überall zuerst nach Sicherheit, Alfred. Das war nie meine Art. Das Mädchen ist mein Großkind, das einzige unserer Familie! Mir ist es völlig einerlei, was ihr Vater war oder tat. Sie ist mein Fleisch und Blut. Und sie wird hier in meinem Haus leben.»
«Sie soll hier leben?», fragte Lydia verblüfft.
Er streifte sie mit einem Blick. «Hast du etwas dagegen einzuwenden?»
Sie schüttelte den Kopf und sagte lächelnd: «Ich könnte doch nicht gut Einwände dagegen erheben, dass du sie in dein eigenes Haus einlädst. Nein, ich dachte eigentlich eher an sie. Ob sie hier glücklich sein wird…»