Der alte Simeon richtete sich etwas auf.
«Sie hat keinen roten Heller. Also wird sie mir dankbar sein.»
Lydia zuckte die Achseln.
«Du siehst», wandte sich Simeon wieder an seinen Sohn, «es wird ein großes Weihnachtsfest werden. All meine Kinder um mich versammelt – alle. Und jetzt, Alfred, rate, wer der andere Gast sein wird.»
Alfred sah ihn verwirrt an.
«Herrschaft, Junge! Alle meine Kinder! Kommst du nicht drauf? Harry, natürlich, dein Bruder Harry!»
Alfred wich das Blut aus dem Gesicht.
«Harry? Nein», stammelte er. «Wir dachten, er sei tot.»
«O nein! Der nicht!»
«Und du lässt ihn heimkommen? Nach allem, was er…»
«Der verlorene Sohn, wie? Ganz richtig. Das gemästete Kalb. Wir müssen ein gemästetes Kalb für ihn schlachten, Alfred. Er muss eine großartige Begrüßung haben!»
«Er hat uns schändlich behandelt. Er hat –»
«Du brauchst mir seine Untaten nicht aufzuzählen. Eine lange Liste, ich weiß. Aber Weihnachten, weißt du, ist das Fest der Versöhnung, und darum werden wir den Verlorenen zu Hause willkommen heißen.»
Alfred erhob sich. «Das war ein ziemlicher Schock», murmelte er. «Ich hätte mir nie träumen lassen, dass Harry jemals hierher zurückkäme.»
Simeon lehnte sich vor.
«Du hast Harry nie leiden können, nicht wahr?», fragte er sanft.
«Nach allem, was er dir angetan hat…»
Simeon lachte. «Nun, was vorbei ist, ist vorbei. Das ist der Sinn der Weihnachtsbotschaft, wie, Lydia?»
Lydia war ebenfalls blass geworden. Sie sagte trocken: «Du scheinst dieses Jahr viel über Christfest und Weihnachtsbotschaft nachgedacht zu haben.»
«Ich will meine Familie um mich haben. Friede und Vergebung auf Erden. Ich bin ein alter Mann. Gehst du auch schon, meine Liebe?»
Alfred war aus dem Zimmer gestürzt. Lydia zögerte noch, ehe sie ihm folgte. Simeon deutete mit dem Kopf zur Tür.
«Es hat ihn aufgeregt. Er und Harry haben sich nie vertragen. Harry hat Alfred immer ausgelacht. Nannte ihn immer Herr Langsam-aber-Sicher.»
Lydia öffnete den Mund; doch als sie den gierigen, gespannten Ausdruck auf dem Gesicht des alten Mannes sah, schwieg sie. Ihre Selbstbeherrschung ärgerte ihn sichtlich. Diese Tatsache gab ihr die Überlegenheit, leichthin zu sagen: «Der Hase und der Igel. Nun, der Igel gewinnt den Lauf.»
«Nicht immer», kicherte der Alte. «Nicht immer, meine liebe Lydia.»
Sie lächelte. «Entschuldige, aber ich sollte Alfred nachgehen. Plötzliche Aufregungen machen ihn immer ganz krank.»
Simeon kicherte. «Ja, der arme Alfred liebt weder Überraschungen noch Veränderungen. Er war von jeher ein langweiliger Mensch!»
«Alfred ist dir sehr ergeben.»
«Und das kommt dir komisch vor, nicht wahr?»
«Manchmal», sagte Lydia langsam, «kommt es mir wirklich komisch vor.»
Damit verließ sie den Raum; Simeon Lee sah ihr nach. Er lachte leise und schien sehr zufrieden zu sein. «Das wird ein Hauptspaß», sagte er. «Ein Hauptspaß! Dieses Weihnachtsfest wird mir gefallen!»
Er stand mühsam von seinem Stuhl auf und humpelte mit Hilfe des Stocks durch das Zimmer. Vor einem großen Safe in einer Ecke blieb er stehen und drehte am Kombinationsschloss. Die Tür öffnete sich. Er griff mit zitternden Händen ins Innere des Safes, zog einen Lederbeutel heraus, öffnete ihn und ließ eine Unmenge ungeschliffener Diamanten durch seine Finger gleiten.
«Nun, meine Schönen. Immer noch die gleichen, meine alten Freunde! Das war eine glückliche Zeit – eine sehr glückliche Zeit! Euch wird man nicht schleifen und schneiden, Freunde. Ihr werdet nicht um Frauenhälse hängen, an ihren Fingern kleben oder in ihren Ohren stecken. Ihr gehört mir. Meine alten Freunde. Wir wissen allerhand voneinander, ihr und ich. Ich sei alt, sagen sie, und krank. Aber mit mir ist es noch lange nicht aus. Noch viel Leben in dem alten Hund. Und noch viel Freude aus diesem Leben herauszuholen. Noch viel Freude!»
23. Dezember
Tressilian ging zur Eingangstür. Es war auf eine äußerst aufdringliche und ungehörige Art geläutet worden, und jetzt eben, ehe er noch die Eingangshalle hatte durchqueren können, erklang das durchdringende Schrillen schon wieder.
Tressilian ärgerte sich. So unhöflich, ungeduldig läutete man nicht an der Haustür seines Herrn. Wenn es vielleicht wieder eine Gruppe dieser Weihnachtssänger war, dann wollte er ihnen seinen Standpunkt deutlich klar machen.
Durch die Milchglasscheibe sah er eine Silhouette – einen großen Mann mit einem Schlapphut. Er öffnete. Wie er gedacht hatte: ein unordentlich gekleideter, auffälliger Fremder - grässlich schreiender Anzug –, ein aufdringlicher Bettler.
«Donnerwetter! Das ist doch Tressilian!», rief der Fremde. «Wie geht es Ihnen, Tressilian?»
Tressilian starrte ihn an, holte tief Atem, starrte noch einmal. Diese scharf geschnittene, arrogante Wangen- und Kinnpartie, die schmale Nase, die vergnügten Augen…
«Mr Harry», stieß er hervor.
Harry Lee lachte. «Habe ich Sie erschreckt? Warum? Ich werde doch erwartet, oder etwa nicht?»
«Doch, Sir. Natürlich, Sir.»
«Also! Weshalb dann diese Überraschung?» Harry Lee trat ein paar Schritte zurück und sah sich das Haus, einen soliden, aber fantasielosen Ziegelbau, von außen an.
«Immer noch der alte Gräuel», sagte er, «aber es steht jedenfalls noch, das ist die Hauptsache. Wie geht’s meinem Vater?»
«Er ist leicht invalid, Sir. Muss das Zimmer hüten und kann sich nicht bewegen. Aber den Umständen entsprechend, geht es ihm sehr gut.»
«Der alte Halunke!» Harry Lee trat ein und überließ Tressilian seinen Schal und den theatralischen Hut.
«Und mein lieber Bruder Alfred? Geht es ihm auch gut? Freut er sich, mich zu sehen?»
«Ich glaube schon, Sir.»
«Na, ich nicht. Im Gegenteil! Wahrscheinlich hat er Zustände gekriegt, als er hörte, dass ich komme. Wir haben uns nie ausstehen können. Lesen Sie manchmal die Bibel, Tressilian?»
«Gewiss, von Zeit zu Zeit lese ich darin.»
«Dann kennen Sie doch die Geschichte vom verlorenen Sohn. Der brave Bruder freute sich gar nicht darüber, dass der andere zurückkam, erinnern Sie sich? Der brave Stubenhocker Alfred freut sich bestimmt auch nicht über meine Rückkehr.»
Tressilian sah wortlos zu Boden. Sein steifer Rücken drückte Protest aus. Harry schlug ihm auf die Achsel.
«Los, alter Knabe. Das gemästete Kalb erwartet mich! Führen Sie mich sofort zu ihm.»
«Wollen Sie mir bitte zuerst ins Wohnzimmer folgen, Mr Harry. Ich weiß nicht, wo die Herrschaften alle sind. Man konnte Ihnen den Wagen nicht entgegenschicken, weil niemand Ihre genaue Ankunftszeit wusste.»
Harry blickte sich nach allen Seiten um.
«Alle alten Schaustücke noch am alten Platz», stellte er fest. «Ich glaube, es hat sich überhaupt nichts verändert, seit ich vor zwanzig Jahren fortging.»
Er trat ins Wohnzimmer. Der alte Diener murmelte: «Ich werde nun Mr oder Mrs Alfred suchen gehen», und entfernte sich eilig.
Harry Lee hatte ein paar Schritte getan, als er plötzlich wie angewurzelt stehen blieb. Fassungslos und ungläubig starrte er die Gestalt an, die dort auf dem Fenstersims saß. Seine Augen überflogen das schwarze Haar und die gebräunte Haut.
«Allmächtiger!», stieß er endlich hervor. «Sind Sie vielleicht die siebente und schönste Frau meines Vaters?»
Die Gestalt glitt von ihrem Sitz und trat auf ihn zu.
«Ich bin Pilar Estravados», stellte sie sich vor. «Und du musst mein Onkel Harry sein, Mutters Bruder.»
«Dann bist du also Jennys Tochter?»
Pilar überhörte diese Frage. «Warum hast du mich gefragt, ob ich die siebente Frau deines Vaters sei? Hatte er wirklich sechs Frauen?»