Der alte Mann sah sie an. «So, du magst ihn gern? Harry hat immer Glück bei den Frauen, darin schlägt er mir nach.» Er kicherte. «Ich habe ein gutes Leben gehabt – ein sehr gutes Leben. Von allem habe ich bekommen.»
«In Spanien haben wir ein Sprichwort, das heißt: Nimm dir, was du willst, und bezahle dafür, sagt Gott.»
«Das ist ausgezeichnet.» Simeon Lee horchte ihren Worten nach. «Nimm dir, was du willst. Das habe ich mein Leben lang getan, genommen, was ich wollte.»
«Und hast du dafür bezahlt?» Pilars Stimme klang plötzlich hell und eindringlich.
Simeon fuhr auf und starrte sie an. «Was sagst du da?»
«Ich fragte: Hast du dafür bezahlt, Großvater?»
«Das weiß ich nicht», antwortete der alte Mann zögernd. Dann schlug er wieder mit der Hand auf die Armlehne. «Wie kommst du dazu, mich das zu fragen?»
«Ich habe eben darüber nachgedacht», sagte Pilar sanft.
«Du kleiner Teufelsbraten!»
«Aber du hast mich trotzdem gern, Großvater, nicht wahr?»
«Ja, ich habe dich gern, ich sitze gern hier mit dir. Ich habe lange niemand so Junges und Schönes mehr um mich gehabt. Es tut mir gut, und es wärmt meine alten Knochen. Du bist mein Fleisch und Blut. Das rechne ich Jennifer hoch an. Sie war noch die Beste von allen.»
Pilar lächelte weich, aber undurchdringlich.
«Dabei kannst du mich nicht etwa hinters Licht führen, kleine Katze. Ich weiß genau, weshalb du so geduldig hier sitzt und mir zuhörst. Geld! Immer geht es um Geld! Oder willst du mir vielleicht weismachen, dass du deinen alten Großvater liebst?»
«Nein, das nicht. Aber ich mag dich gern. Das musst du mir glauben, denn es ist wahr. Wahrscheinlich warst du ein skrupelloser Mann, aber sogar das gefällt mir. Und du hast Interessantes erlebt, du bist viel gereist und hast ein Abenteuerleben geführt. Wenn ich ein Mann wäre, wollte ich genauso leben.»
Simeon nickte. «Jawohl, das würdest du vermutlich. Wir hätten Zigeunerblut in uns, sagt man. In meinen Söhnen, mit Ausnahme von Harry, scheint es nicht mehr wirksam zu sein; aber ich glaube, in dir ist es wieder lebendig geworden. Man muss nur warten können. Ich habe einmal fünfzehn Jahre lang gewartet, um mit einem Mann, der mich gekränkt hatte, eine Rechnung zu begleichen. Das ist ein weiteres Merkmal von uns Lees – dass wir nichts vergessen! Wir rächen alles Böse, und wenn es Jahre dauert. Jenen Mann habe ich nach fünfzehn Jahren gefasst – und ich habe ihn zertreten, ruiniert, ausgelöscht. Das war in Südafrika. Ein großartiges Land!»
«Bist du noch einmal dort gewesen?»
«Ja, die fünf Jahre nach meiner Heirat verbrachte ich noch unten. Nachher bin ich nie mehr zurückgefahren.» Seine Stimme wurde leiser. «Wart, ich will dir was zeigen.»
Er stand mühsam auf, nahm seinen Stock und humpelte an den Safe, öffnete ihn und winkte sie zu sich.
«Da! Schau dir die an! Spüre sie! Lass sie durch deine Finger laufen!» Er lachte über ihr erstauntes Gesicht. «Das sind Diamanten, Kind! Diamanten!»
Pilars Augen weiteten sich. «Aber das sind ja nur kleine Kieselsteine!»
«Es sind ungeschliffene Diamanten. So findet man sie.»
«Und wenn sie geschliffen würden, würden sie funkeln und blitzen wie richtige Diamanten? Nein! Das glaube ich nicht!»
Er amüsierte sich königlich. «Trotzdem ist es wahr. Und diese Hand voll Kieselsteine ist viele tausend Pfund wert.»
Pilar wiederholte seine Worte, stockend, mit Pausen dazwischen.
«Ist… viele… tausend… Pfund… wert?»
«Sagen wir neun – oder zehntausend mindestens. Es sind große Steine, weißt du.»
«Warum verkaufst du sie dann nicht?»
«Weil ich sie gerne hier behalte. Ich brauche kein Geld.»
«Ah! Darum!» Pilar schien tief beeindruckt zu sein. «Und warum lässt du sie nicht schleifen, damit sie schön werden?»
«Weil sie mir so besser gefallen.» Sein Gesicht verdüsterte sich plötzlich. Er wandte sich um und sprach wie zu sich selber weiter. «Weil sie mir alles zurückbringen, wenn ich sie berühre – die helle Sonne, den Geruch der weiten Weiden, die Rinderherden, den alten Eb, die Freunde, die Abende…»
Es wurde leise an die Türe geklopft.
«Schnell, leg sie zurück und schlag die Tür zu!», zischelte Simeon. Dann rief er: «Herein!»
Horbury trat ein und meldete ehrerbietig: «Der Tee, Sir.»
Hilda sagte: «Ach, da bist du, David. Ich hab dich überall gesucht. Aber hier wollen wir nicht bleiben. Es ist scheußlich kalt hier drinnen.»
David antwortete ihr nicht sofort. Er stand vor einem tiefen Fauteuil mit verblichenem Bezug. Plötzlich stieß er hervor: «Das ist ihr Stuhl – hier saß sie immer, in diesem Stuhl. Nur der Satin ist ein wenig verschossen.»
Hilda runzelte leicht die Stirn.
«Ich verstehe. Aber komm jetzt, David. Es ist kalt hier.»
Doch David schien sie nicht zu hören. Er sah sich um.
«Ja, hier saß sie meistens. Ich weiß noch, wie ich auf jenem Schemel dort saß, wenn sie mir vorlas. Jack, der Riesentöter – ja, das war es, das hat sie mir vorgelesen, als ich etwa sechs Jahre alt war.»
Hilda schob ihre Hand unter seinen Arm.
«Komm jetzt wieder ins Wohnzimmer, Lieber. In diesem Zimmer ist ja nicht einmal eine Heizung.»
Er wandte sich gehorsam um, aber sie fühlte, dass er am ganzen Leib zitterte. «Genau wie damals», murmelte er, «genau wie damals. Als wäre die Zeit stillgestanden…»
Hilda war besorgt; aber sie sprach fröhlich und entschlossen weiter. «Wo nur die anderen alle stecken? Es muss doch schon Teezeit sein.»
David machte sich frei und öffnete die Tür zu einem anderen Zimmer. «Da drinnen war ein Klavier. Ja, da steht es noch. Ob es auch noch klingt?»
Er setzte sich davor, öffnete den Deckel und spielte eine Tonleiter. «Tatsächlich! Es scheint sogar gestimmt worden zu sein.» Er begann zu spielen. Sein Anschlag war weich und voll.
«Was spielst du da?», fragte Hilda. «Es kommt mir bekannt vor, aber ich weiß nicht, was es ist.»
«Ich habe es seit vielen Jahren nicht mehr gespielt. Sie hat es besonders geliebt. Eines von Mendelssohns Liedern ohne Worte.»
Die süße, fast zu süße Melodie flutete durch den Raum.
Plötzlich ließ David die Hände in schrillem Missakkord auf die Tasten fallen. Er stand auf. Sein Gesicht war totenblass, und er zitterte.
«David!», sagte Hilda beschwörend. «David!»
«Lass nur, es ist nichts – wirklich nicht.»
Die Türglocke schrillte. Tressilian stand in der Küche von seinem Stuhl auf und ging gemessenen Schritts zum Eingang.
Die Glocke schrillte noch einmal. Tressilian runzelte die Stirn. Durch die Milchglasscheibe erblickte er die Silhouette eines Mannes im Schlapphut. Tressilian fuhr sich mit der Hand über die Augen. Es war gespenstisch. Alles schien sich zweimal abzuspielen. Das hatte er doch bereits einmal erlebt, bestimmt…
Er schob den Riegel zurück und öffnete die Türe. Da zerbrach der Zauber. Der Mann sagte laut und deutlich:
«Wohnt hier Mr Simeon Lee? Ich möchte ihn sprechen.» Seine Stimme rief eine Erinnerung in Tressilian wach. Sie glich derjenigen seines Herrn, als dieser in alten Tagen nach England zurückgekommen war.
Er schüttelte zweifelnd den Kopf. «Mr Lee ist invalide, Sir. Er empfängt nicht oft Besuche. Wenn Sie –»
Der Fremde unterbrach ihn, indem er einen Briefumschlag hervorzog und dem Butler aushändigte. «Geben Sie das bitte Mr Lee.»
Simeon Lee entnahm dem Umschlag einen einfachen Bogen Papier. Er sah erstaunt aus, aber er lächelte.
«Das ist ja herrlich», sagte er. Und zum Butler gewandt: «Führen Sie Mr Farr sofort herauf, Tressilian. Eben habe ich an Ebenezer Farr gedacht. Er war mein Geschäftspartner unten in Kimberley. Und jetzt taucht plötzlich sein Sohn hier auf.»