Zahnlücke und ließ keinen Blick von Scipio.
»Ich schließ mich Prospers Meinung an«, sagte Wespe in das Schweigen hinein. »Es gibt keinen Grund, schon wieder etwas zu riskieren. Wir haben doch jetzt erst mal genug Geld.« Scipio betrachtete seine Maske und steckte einen Finger in die leeren Augenhöhlen. »Ich werde den Auftrag annehmen«, sagte er. »Riccio, du gehst gleich morgen zu Barbarossa und überbringst ihm meine Antwort.«
Riccio nickte. Er strahlte über sein ganzes mageres Gesicht. »Und diesmal nimmst du uns mit, ja?«, fragte er. »Bitte, ich will auch endlich mal so ein vornehmes Haus von innen sehen.«
»Stimmt. Das würde ich auch gern.« Mosca blickte verträumt an dem Vorhang hoch, der im Kerzenlicht glitzerte, als wäre er mit goldenen Spinnenfäden bedeckt. »Ich hab mir schon oft ausgemalt, wie es dadrin aussieht. Ich hab mal gehört, dass in einigen der Fußboden aus Gold ist, und an den Klinken sitzen echte Diamanten.«
»Geh in die Scuola di San Rocco, wenn du so was sehen willst!« Wespe sah die anderen ärgerlich an. »Scipio hat es eben noch selbst gesagt. Er sollte eine Weile Pause machen. Schließlich suchen sie bestimmt immer noch nach dem Dieb, der in den Palazzo Contarini eingebrochen ist. Da wäre ein neuer Einbruch doch leichtsinnig, dumm!« Sie drehte sich zu Scipio um. »Wenn Barbarossa wüsste, dass der Herr der Diebe nicht eine Bartstoppel am Kinn hat und ihm selbst mit hohen Absätzen kaum bis an die Schulter reicht, dann hätte er ihn sowieso nie gefragt.«
»Ach ja?« Scipio richtete sich auf, als könnte er Wespe das Gegenteil beweisen. »Weißt du, dass Alexander der Große kleiner war als ich? Er musste sich einen Tisch vor den persischen Thron schieben lassen, um draufklettern zu können! Es bleibt dabei. Richtet
Barbarossa aus, dass der Herr der Diebe den Auftrag annimmt. Ich muss jetzt gehen, aber morgen komme ich wieder.« Er wollte sich umdrehen, aber Wespe trat ihm in den Weg. »Scipio!«, sagte sie leise. »Hör zu. Vielleicht bist du wirklich ein besserer Dieb als alle erwachsenen Diebe dieser Stadt, aber wenn Barbarossa dich mit deinen hohen Hacken und deinem Erwachsenengetue sieht, wird er dich auslachen.« Betreten sahen die anderen Scipio an. Noch nie hatte einer von ihnen so mit ihm zu sprechen gewagt. Reglos stand Scipio da und starrte Wespe an.
Dann verzog sein Mund sich plötzlich zu einem spöttischen Lächeln. »Der Rotbart wird mich aber nicht sehen!«, sagte er und schob sich die Maske über die Augen. »Und sollte er jemals wagen, über mich zu lachen, dann spucke ich ihm in sein rundes Mondgesicht und lache doppelt so laut über ihn, denn er ist nur ein gieriger, fetter alter Mann, aber ich bin der Herr der Diebe.« Mit einem Ruck drehte er Wespe den Rücken zu und stakste davon. »Es wird spät morgen!«, rief er über die Schulter.
Dann verschluckten ihn die Schatten, die die Kerzen nicht aus dem Saal hatten scheuchen können.
Nachts ist man klein
Mitten in der Nacht, als die anderen längst schliefen, stand Prosper noch einmal auf. Er zog Bo die Decke über die bloßgestrampelten Füße, holte seine Taschenlampe unter dem Kissen hervor, schlüpfte in seine Sachen und schlich sich an den anderen vorbei. Riccio warf sich im Schlaf unruhig hin und her, Mosca hielt sein Seepferd umklammert und auf Wespes Kissen, den Kopf in ihrem braunen Haar, schlief eins von Bos Kätzchen. Als Prosper die Tür des Notausgangs öffnete, schauderte er, so kalt schlug ihm die Nachtluft entgegen. Der Himmel war sternenklar, und im Kanal hinter dem Kino spiegelte sich der Mond. Die Häuser am gegenüberliegenden Ufer waren dunkel. Nur hinter einem Fenster brannte Licht. Noch jemand, der nicht schlafen kann, dachte Prosper. Ein paar Stufen, breit und ausgetreten, führten hinunter ans Wasser. Die Treppe sah aus, als könnte man auf ihr geradewegs bis zum Grund des Kanals hinabsteigen. Tiefer und tiefer, bis in eine andere Welt. Einmal, als er mit Bo und Mosca am Kanal gesessen hatte, hatte Bo behauptet, dass die Treppe bestimmt von Wassermännern und Seejungfrauen gebaut worden sei, und Mosca hatte ihn gefragt, wie sie mit ihren Fischschwänzen denn die glitschigen Stufen hinaufkamen. Prosper musste lächeln, als er daran dachte. Er setzte sich auf die oberste Stufe und blickte auf das mondbeschienene Wasser. Verschwommen spiegelten sich die alten Häuser darin. So, wie sie sich schon in dem Kanal gespiegelt hatten, als Prosper noch nicht geboren war, als seine Eltern noch nicht geboren waren, nicht einmal seine Großeltern. Wenn er durch die Stadt lief, strich er oft mit den Fingern an den Hausmauern entlang. Die Steine in Venedig fühlten sich anders an, alles war anders. Anders als was? Anders als früher. Prosper versuchte nicht daran zu denken. Obwohl er kein Heimweh hatte. Schon lange nicht mehr. Nicht mal nachts. Hier war jetzt sein Zuhause. Wie ein großes, sanftes Tier hatte die Stadt des Mondes Bo und ihn empfangen, hatte sie versteckt in ihren verschlungenen Gassen, sie verzaubert mit ihren fremdartigen Gerüchen und Geräuschen. Sogar Freunde hatte sie für sie bereitgehalten. Prosper wollte nie wieder fort. Nie wieder. Er hatte sich so daran gewöhnt, das Wasser schlürfen und schlecken zu hören an Holz und Stein. Doch was, wenn sie wieder fortmussten? Wegen dem Mann mit dem Walrossbart.
Riccio und er hatten den anderen immer noch nichts von ihrem Verfolger erzählt. Dabei waren sie alle in Gefahr, denn falls dieser Detektiv Bo und Prosper auf die Spur kam, würde er auch das Sternenversteck finden. Und die anderen: Mosca, der nicht zu seiner Familie zurückwollte, weil sie ihn nicht vermisste, Riccio, auf den nur das Kinderheim wartete, Wespe, die nichts über ihr früheres Zuhause erzählte, weil es sie zu traurig machte - und Scipio. Prosper fröstelte und schlang die Arme um die angezogenen Knie. Was war, wenn der Detektiv auf der Suche nach Bo und ihm auch dem Herrn der Diebe auf die Spur kam? Das wäre ein schlechter Dank dafür, dass Scipio sie unter seine Fittiche genommen hatte.
Auf den feuchten Stufen lag eine zerrissene
Vaporettokarte. Prosper ließ sie in den Kanal flattern und beobachtete, wie sie davontrieb.
Hilft nichts, ich muss ihnen von dem Detektiv erzählen, dachte er. Aber wie sollte er das anstellen, ohne dass Bo es erfuhr? Bo, der sich so sicher fühlte und ihm geglaubt hatte, als er ihm gesagt hatte, dass Esther sie hier in Venedig nie suchen würde. In dem Haus gegenüber regte sich hinter dem erleuchteten Fenster ein Schatten. Dann ging das Licht aus. Prosper stand auf. Die steinernen Stufen waren kalt und feucht, und er fror. Jetzt gleich, während Bo schläft, dachte er, jetzt gleich werde ich den anderen von dem Walrossbart erzählen. Vielleicht schlägt Scipio sich dann auch den Auftrag von Barbarossa aus dem Kopf. Aber vielleicht, Prosper mochte den Gedanken nicht zu Ende denken, vielleicht schickte Scipio ihn und Bo auch fort. Was dann? Mit schwerem Herzen kehrte Prosper zu dem verlassenen Kino zurück.
»Wespe, wach auf!« Prosper rüttelte sie nur ganz sacht an der Schulter, aber Wespe fuhr so erschrocken hoch, dass die kleine Katze wie ein Ball von ihrem Kissen rollte. »Was ist?«, murmelte sie und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
»Gar nichts. Ich muss euch nur was erzählen.«
»Mitten in der Nacht?«
»Ja.« Prosper richtete sich auf, um Mosca zu wecken, aber Wespe hielt ihn zurück. »Warte, erzähl doch erst mal mir, was los ist, bevor du die anderen weckst.« Prosper sah hinüber zu Mosca, der sich so tief unter seine Decke vergraben hatte, dass nur die kurzen krausen Haare zu sehen waren. »Ist gut, Riccio weiß sowieso Bescheid.«
Sie setzten sich nebeneinander auf die Klappsessel, zwei Decken um die Schultern. Die Heizung im Kino funktionierte ebenso wenig wie das Licht, und die Heizöfen, die Scipio besorgt hatte, vertrieben die Kälte nur notdürftig aus dem großen Saal. Wespe zündete zwei Kerzen an. »Also?«, fragte sie und blickte Prosper erwartungsvoll an.