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»Victor«, antwortete Victor. Und hätte sich fast selbst geohrfeigt. Wieso, Teufel und Dämonen, sagte er dem Kleinen seinen wirklichen Namen? Hatten die Tauben ihm denn sein bisschen Verstand weggepickt?

»Bist du nicht noch etwas zu jung, Bo, um dich in diesem Gewimmel allein herumzutreiben?«, fragte er beiläufig und streute Bo noch ein paar Körner in die Hand. »Haben deine Eltern keine Angst, dass du zwischen all den Menschen verloren gehst?« »Mein Bruder ist doch hier«, antwortete Bo und beobachtete entzückt, wie eine zweite Taube sich auf seinem Arm niederließ. »Und meine Freunde auch. Wo kommst du her? Aus Amerika? Du redest komisch. Ein Venediger bist du jedenfalls nicht, oder?« Victor betastete seine Nase. Sie fühlte sich angepickt an. »Nein«, antwortete er und schob sich die Mütze zurecht. »Ich komm mal von hier, mal von da. Ein bisschen von überall. Wo kommst du her?« Victor sah zum Brunnen hinüber. Das Mädchen hatte den Kopf gehoben und sah sich suchend um.

»Von ziemlich weit weg«, sagte Bo. »Aber jetzt wohn ich hier.« Das »ziemlich« zog er ganz lang, als wollte er Victor damit verdeutlichen, wie weit entfernt dieser Ort war, von dem er kam. »Hier ist es viel schöner«, fügte er noch hinzu und lächelte die Tauben auf seinem Arm an. »Überall sind Löwen mit Flügeln und Drachen und Engel, die passen auf Venedig auf, sagt Prosper, und auf uns, aber viel aufzupassen gibt es da ja nicht, weil hier keine Autos fahren. Deshalb hört man auch besser. Das Wasser und die Tauben. Und man muss nie Angst haben, dass man überfahren wird.«

»Ja, das stimmt.« Victor verkniff sich ein Grinsen. »Man achtet einfach nur ein bisschen darauf, dass man in keinen Kanal fällt.« Er drehte sich um. »Dahinten am Brunnen - sind das deine Freunde?« Bo nickte.

»Ich glaube, das Mädchen sucht dich«, sagte Victor. »Wink ihr mal, sonst macht sie sich Sorgen.«

»Das ist Wespe.« Bo winkte ihr mit der taubenfreien Hand zu. Beruhigt setzte Wespe sich wieder auf den Brunnenrand. Aber sie klappte ihr Buch zu und ließ Bo nicht mehr aus den Augen. Victor beschloss, noch einmal den Taubenständer zu machen. Das war am unverdächtigsten. »Ich wohne in einem Hotel direkt am Canal Grande«, sagte er, während die Tauben sich wieder auf ihm niederließen. »Und du?«

»In einem Kino.« Bo fuhr erschrocken zurück, weil einer der Vögel sich in seinem Haar festkrallen wollte. »In einem Kino?« Ungläubig sah Victor auf ihn hinunter. »Beneidenswert. Da kannst du dir ja den ganzen Tag Filme ansehen.«

»Nein, das geht nicht. Der Projektor ist weg, sagt Mosca. Die meisten Stühle auch. Und die Leinwand haben die Motten so zerfressen, dass die nie mehr zu gebrauchen ist.«

»Mosca? Ist das auch einer von deinen Freunden? Wohnst du mit deinen Freunden zusammen?«

»Ja, wir wohnen alle zusammen.« Bo nickte stolz. Victor musterte ihn nachdenklich. Konnte das stimmen? Vielleicht tut der Zwerg nur so unschuldig!, dachte er. Und während ich auf sein Engelsgesicht hereinfalle, erzählt er mir faustdicke Lügengeschichten. Ein Haufen Kinder, die allein lebten? So was sollte es geben. Aber die hier sahen nicht so aus, als ob sie Hunger litten oder unter den Brücken schliefen. Gut, die Knie von Bos Hosen waren gestopft, und das nicht besonders geschickt, und den saubersten Pullover trug er nicht gerade, aber das kam auch bei anderen Kindern vor. Auf jeden Fall sah der Kleine aus, als ob ihm irgendjemand regelmäßig die Haare kämmte und die Ohren wusch. Sein Bruder?

Vielleicht erzählt er mir ja noch ein bisschen mehr, dachte Victor und ließ die Arme sinken. Enttäuscht flatterten die Tauben davon, und Victor rieb sich die schmerzenden Schultern. »Was meinst du, Bo?«, fragte er beiläufig. »Wollen wir zusammen da im Cafe ein Eis essen gehen?«

Bos Blick wurde misstrauisch. Auf der Stelle. »Ich geh nicht mit Fremden irgendwohin«, antwortete er verächtlich und machte einen Schritt zurück. »Nicht ohne meinen großen Bruder.«

»Natürlich nicht!«, sagte Victor schnell. »Sehr klug von

dir.« Das Mädchen am Brunnen hatte sich aufgerichtet. Sie zeigte in seine Richtung, und jetzt sah er, dass die anderen drei zurück waren. Der Maskierte trug einen Korb, und Prosper spähte mit besorgtem Gesicht zu Victor herüber.

Er kann mich nicht erkennen, dachte Victor, unmöglich. Ich hatte diesen Walrossbart im Gesicht. Aber unbehaglich fühlte er sich trotzdem. »Ich muss los, Bo!«, sagte er hastig, während Prosper mit misstrauischer Miene auf sie zusteuerte. »War nett, mit dir zu plaudern. Ich mach schnell noch ein Foto von dir. Zum Andenken, ja?«

Bo lächelte und stellte sich in Positur, immer noch eine Taube auf der Hand. Prosper beschleunigte seinen Schritt, als Victor die Kamera hob. Er rannte fast.

Victor drückte auf den Auslöser, spannte, fotografierte noch mal. »Danke, Kleiner. War nett, dich kennen zu lernen«, sagte er und fuhr Bo über das tintenschwarze Haar. Ja, es war gefärbt, kein Zweifel.

Nur noch wenige Schritte war Prosper entfernt. Er reckte sich, bahnte sich hastig einen Weg durch die Menschen, ohne Victor aus den Augen zu lassen. »Mach's gut und lass dich weiterhin nicht von Fremden zum Eis einladen!«, rief Victor Bo zu. Dann machte er schnell ein paar Schritte zurück, drängte sich in die nächste größere Gruppe, die über den Platz schlenderte, zog den Kopf ein und ließ sich mitziehen. Schon war er unsichtbar. Ja, auf diesem Platz konnte sich jeder unsichtbar machen, wenn er es etwas geschickt anstellte. Schnell stopfte Victor seine Mütze in die linke Hosentasche, nahm die Brille ab und fischte aus der rechten Tasche einen kleinen Bart und eine Sonnenbrille. Auf die Nase damit und dann vorsichtig und ohne Hast zurückgeschlendert zu der Stelle, wo die beiden Jungen immer noch in einem Schwarm von Tauben standen. Unauffällig schob Victor sich an den beiden vorbei, eingeklemmt zwischen fünf dicken alten Damen.

Diesmal werde ich mich nicht abhängen lassen, dachte er. O nein. Diesmal bin ich vorbereitet. Und wenn Prosper ihn doch erkannte? Unsinn. Wie sollte er ihn erkennen? Der Junge war doch kein Wunderknabe. Was für ein Junge war er eigentlich? Seine Tante wusste es bestimmt nicht. Esther Hartlieb interessierte nur der Kleine mit dem Engelsgesicht. Die zwei Brüder voneinander zu trennen fanden sie und ihr Mann vermutlich nicht schlimmer, als Eigelb von Eiweiß zu trennen. Durch die dunkle Sonnenbrille beobachtete Victor, wie Prosper den Arm um seinen kleinen Bruder legte und eindringlich auf ihn einredete, wie er ihm erleichtert durchs Haar fuhr und ihn dann mit sich zog, während er sich immer wieder umsah. Tatsächlich, der Teufelskerl war misstrauisch. Bei der Beschattung ist Vorsicht angesagt, mein Lieber!, dachte Victor, während er den beiden unauffällig folgte. Noch mal darfst du die Sache nicht vermasseln. Und was immer seine Tante von ihm sagt, das ist ein kluger Junge. Versteckt hinter einer Gruppe Japaner, die den Uhrturm anstaunte, zog Victor seine Jacke aus und wendete sie. Jetzt war sie grau statt rot. Als Victor hinter den Japanern auftauchte, stand Prosper mit Bo schon wieder bei den anderen. Die sechs redeten kurz miteinander, dann verschwanden sie in einer der Gassen, die auf den Platz führten.

»An die Arbeit, Herr Detektiv«, murmelte Victor. »Nun wollen wir doch mal sehen, wo diese Mäuse ihr Mauseloch haben.« Was er tun würde, wenn er herausgefunden hatte, wo sie sich versteckt hielten, darüber versuchte Victor noch nicht nachzudenken. Später, dachte er nur. Später. Und dann folgte er den Kindern in das Gewirr der Gassen.

Eine böse Ahnung

»Verdammt, Bo, kannst du nicht einmal das tun, was man dir sagt?«, schimpfte Scipio, als Prosper mit Bo zurückkam. »Ihr wart ewig lange weg!«, murrte Bo. »Da hab ich mich gelangweilt.« Er sah sich um, aber Victor, der Taubenmann, war nirgendwo zu entdecken. »Ich hatte ihn die ganze Zeit im Blick, Scip«, sagte Wespe. »Also reg dich nicht auf.«