»Dann los.«
Nacheinander schlüpften die vier wieder nach draußen. Prosper und Bo sahen ihnen voll Sorge durchs Fenster nach.
»Er war aber nett«, murmelte Bo.
»Man merkt nicht gleich, ob jemand wirklich nett ist«, sagte Prosper. »Und ansehen tut man es auch niemandem. Wie oft muss ich dir das noch erzählen?«
Prügel für Victor
Victor stand nur ein paar Meter entfernt. Um nicht weiter aufzufallen, kehrte er dem Laden, in dem die Kinder verschwunden waren, den Rücken zu. Aber er behielt die Ladentür im Auge, indem er ihr Spiegelbild in der Scheibe des gegenüberliegenden Geschäftes beobachtete.
Was treiben die bloß so lange dadrin?, dachte Victor, während er ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat. Wollen sie sich Plastikfächer kaufen? Oder will der Maskierte sich eine neue Maske zulegen? Da sah Victor plötzlich das Mädchen aus der Ladentür treten. Wespe hatte Bo sie genannt. Gelangweilt sah sie sich um, musterte die Gondeln am Anlegeplatz neben der Brücke und schlenderte auf sie zu. Keine Minute später verließ der schwarze Junge das Geschäft. Mit einem großen Korb in der Hand trollte er sich in genau die entgegengesetzte Richtung. Pest und Teufel. Was sollte das werden? Warum trennten die sich jetzt? Na egal, die beiden Hauptpersonen sind noch immer im Laden, dachte Victor und rückte seine Sonnenbrille zurecht. Als Nächstes kam der Igelkopf. Hüpfte auf einem Bein auf die Pasticceria zu, die nur ein paar Meter entfernt ihren Duft auf die Gasse verströmte, und drückte die Nase an das Fenster. Wahrscheinlich mussten die anderen jetzt alle nach Hause, Schularbeiten machen, Mittag essen. Bos Märchen von den Freunden, die zusammen in einem Kino wohnten, war eben bloß ein Märchen gewesen. Umso besser. Sollten sie ruhig verschwinden, einer nach dem anderen, die zwei, die Victor suchte, würden übrig bleiben - weil sie kein Zuhause hatten. »Ich wohn in einem Kino. Mit meinen Freunden.« Pah. Das musste man ihm lassen, der Kleine konnte wirklich Märchen erzählen. Belustigt betrachtete Victor sein Spiegelbild in der Scheibe. Moment, wer kam denn da aus dem Laden spaziert? Noch so ein Dreikäsehoch. Welcher fehlte denn? Natürlich, der Maskierte. Aber der hatte doch ganz anders ausgesehen, oder? Victor runzelte die Stirn. Der Junge blieb einen Moment vor der Ladentür stehen, sah sich mit ausdruckslosem Gesicht um und bückte sich, um seinen Schuh zuzubinden. Dann richtete er sich auf, blinzelte in die Sonne und schlenderte pfeifend zu den Gondolieri hinüber, die immer noch am Fuß der Brücke auf Kundenfang waren. »Gondola, gondola!«, riefen sie leise. Tja, Victor wäre jetzt auch lieber Gondel gefahren, statt hier herumzustehen. Die Kissen waren so weich und das Schaukeln des langsam dahintreibenden Bootes machte wunderbar schläfrig. Man hörte nur das Plätschern des Wassers, sein Glucksen und Schlürfen an Mauern und Pfählen, das Wispern der alten Stadt. Seufzend schloss Victor für einen Moment die Augen - und riss sie erschrocken wieder auf. »Scusi!«, sagte eine Stimme hinter ihm. Victor fuhr herum.
Der Junge, der sich gerade noch die Gondeln angesehen hatte, stand direkt vor ihm. Und grinste ihn an. Er hatte ein schmales Gesicht und sehr dunkle Augen, fast schwarz waren sie. Victor nahm die Sonnenbrille ab, um ihn deutlicher sehen zu können. War das der Maskierte, der den anderen auf dem Markusplatz wie ein Gockel voranstolziert war?
»Können Sie mir sagen, wie spät es ist?«, fragte der
Junge und betrachtete dabei Victors, karierten Pullover. Mit gerunzelter Stirn blickte Victor auf seine Uhr. »Sechzehn Uhr dreizehn« knurrte er.
Der Junge nickte. »Danke. Schöne Uhr haben Sie da. Zeigt die auch, wie spät es gerade auf dem Mond ist?« Wie spöttisch er Victor mit seinen schwarzen Augen musterte. Was will der von mir?, dachte Victor. Der hat doch irgendwas vor! Schnell warf er einen Blick zu dem Andenkenladen hinüber und stellte beruhigt fest, dass Prosper und Bo immer noch hinter der Scheibe standen und den Kitsch im Schaufenster so andächtig betrachteten, als wären es die Schätze im Dogenpalast. »Sind Sie Engländer?«
»Nein, Eskimo, sieht man das nicht?«, antwortete Victor, fuhr sich über den schmalen falschen Schnurrbart - und spürte, dass der Bart sich selbstständig machte.
»Eskimo? Das ist interessant. Die verirren sich nicht allzu oft hierher«, sagte der Junge, drehte sich um und schlenderte davon. Während Victor dastand und seinen Bart festhielt. »Verdammmich!«, murmelte er, drehte sich schnell um und pflückte das elende Ding von seiner Lippe. Da sah er in der Scheibe, wie das Mädchen zurück in den Laden schlüpfte. Auch der Igel klebte nicht mehr vor dem Fenster der Pasticceria. Und der Junge mit den schwarzen Augen war nirgends mehr zu entdecken. Sie können mich nicht erkannt haben!, dachte Victor. Unmöglich. Und sah verblüfft in der spiegelnden Scheibe, wie die drei einträchtig zusammen aus dem Andenkenladen kamen. Mit Prosper und Bo in ihrer Mitte. Keiner der fünf sah zu ihm herüber, aber sie lachten und tuschelten miteinander, und Victor hatte das unangenehme Gefühl, dass es dabei um ihn ging. Ohne Eile schlenderten sie Richtung Rialto davon.
Victor warf seinem Spiegelbild einen ratlosen Blick zu - und folgte ihnen, vorsichtig, in sicherem Abstand, aber gerade so, dass er sie nicht aus den Augen verlor. Er hatte keine Übung darin, Kinder zu beschatten. Es war eine verdammt unangenehme Aufgabe, wie er feststellte. Sie waren so klein, viel leichter zu übersehen und trotzdem schnell auf den Beinen. Die Gasse, die sie hinuntergingen, war lang, und sie machten keine Anstalten in eine andere zu biegen. Ab und zu blickte sich einer von ihnen um, aber Victor blieb auf der Hut. Alles schien bestens zu laufen, bis diese dicken alten Frauen aus einem Cafe traten, lachend und debattierend, und mit ihren üppigen Hinterteilen die Gasse verstopften, dass kaum noch ein Durchkommen war. Mit ein paar wenig freundlichen Worten drängte Victor sich an ihnen vorbei, reckte den Hals nach den Kindern - und stolperte gegen das Mädchen. Das Mädchen, das am Brunnen so in sein Buch vertieft gewesen war. Das Mädchen, das mit so gelangweilter Miene aus dem Laden gekommen war, ohne Victor auch nur eines Blickes zu würdigen. Ja. Bo hatte sie Wespe genannt.
Sie starrte ihn an, mit feindseligen grauen Augen - und ehe Victor begriff, was sie vorhatte, ließ sie sich plötzlich gegen ihn fallen, trommelte mit ihren Fäusten gegen seinen karierten Pullover und schrie mit schriller Stimme: »Lassen Sie mich los, Sie Schwein! Nein, ich will nicht mit Ihnen mitkommen! Nein!« Victor war so verblüfft, dass er im ersten Moment wie angewurzelt dastand und einfach nur auf sie hinabstarrte. Dann versuchte er sie wegzuschieben, aber sie ließ seine Jacke nicht los und hämmerte weiter gegen seine Brust. Um ihn herum drehten die Leute sich um und starrten ihn an, ihn und das kreischende Mädchen. »Ich hab gar nichts gemacht!«, rief Victor entgeistert. »Nichts, überhaupt nichts!« Und sah entsetzt, wie irgendein Hund bellend auf ihn zusprang. Während die anderen Kinder in der nächsten Seitengasse verschwanden.
»Halt!«, brüllte Victor. »Halt, ihr verlogenen kleinen Teufel!« Er versuchte noch einmal, das Mädchen wegzuschubsen, aber da traf etwas mit solcher Wucht von hinten seinen Kopf, dass er taumelte. Und ehe er es sich versah, standen die dicken alten Frauen um ihn herum und droschen ihm wutentbrannt ihre gewaltigen Handtaschen auf den Kopf. Empört brüllte Victor sie an, hielt sich abwehrend die Arme über den Kopf, aber das Mädchen zeterte immer noch lauthals, und die Frauen prügelten, und der Hund verbiss sich knurrend in Victors Jacke. Immer dichter wurde die aufgebrachte Menge um ihn herum. Sie werden mich zerquetschen!, dachte Victor ungläubig und spürte, wie ihm jemand einen Knopf von der Jacke riss. Zerquetschen wie eine Laus auf einer Zimmerpflanze! Aber gerade als er in die Knie ging, kämpfte sich ein Carabiniere zu ihm durch und zerrte ihn hoch. Und während hundert Stimmen durcheinander riefen, um zu erklären, was die ganze Aufregung verursacht hatte, stellte Victor fest, dass das Mädchen verschwunden war. Ebenso spurlos wie ihre vier Freunde.