Kaugummi in den Papierkorb. »Nein, die Adresse weiß ich nicht. Aber Sie könnten Dottor Massimo fragen. Er ist der Besitzer dieses Kinos, und das STELLA gehörte ihm auch. Eigentlich müsste er ja noch wissen, wo es liegt, oder?«
»Anzunehmen.« Victor holte seinen Notizblock heraus. »Wo finde ich diesen Dottor Massimo?«
»Fondamenta Bollani«, antwortete die Kartenverkäuferin gelangweilt. Sie gähnte. »Die Nummer weiß ich nicht, aber das größte Haus, das Sie finden können, das ist seins. Ist ein sehr reicher Mann, unser Besitzer. Die Kinos hält er sich nur zum Spaß, aber trotzdem hat er das STELLA schließen lassen.«
»So, so«, murmelte Victor und breitete das Handtuch sorgfältig wieder über Paulas Karton. »Na gut, dann werde ich ihm mal gleich einen Besuch abstatten, diesem Dottor Massimo. Oder haben Sie zufällig seine Telefonnummer?«
Die Kartenverkäuferin kritzelte die Nummer auf einen Zettel und schob ihn Victor hin. »Wenn Sie mit ihm sprechen«, sagte sie, »dann erzählen Sie ihm bitte, dass die Vorstellung fast ausverkauft war, ja? Sonst kommt er auf die Idee und lässt das FANTASIA auch noch schließen.«
Victor sah sich vor dem leeren Kino um. »Ich weiß gar nicht, was Sie haben? Die Schlange steht doch bis auf die Gasse«, sagte er - und machte sich auf die Suche nach einer Telefonzelle. Die Batterie seines Handys war schon wieder leer. Er hätte sich nie so ein Ding kaufen sollen.
»Pronto«, raunzte eine tiefe Stimme in Victors Ohr, als er endlich ein funktionierendes Telefon gefunden hatte. »Spreche ich mit Dottor Massimo, dem Besitzer des alten STELLA-Kinos?«, fragte Victor. Paula raschelte in ihrem Karton herum, als suche sie nach einem Ausgang aus dem langweiligen Pappgefängnis.
»Ja, in der Tat«, antwortete Dottor Massimo. »Interesse an dem Kino? Dann kommen Sie vorbei. Fondamenta Bollani 233. Ich bin noch etwa eine halbe Stunde zu sprechen.«
Klack!, machte es in Victors Ohr. Überrascht starrte er den Hörer an. Na, das ist ja ein ganz Schneller!, dachte Victor, während er sich wieder mit seinem Karton aus der Telefonzelle zwängte. Eine halbe Stunde, und die nächste Vaporettostation war weit. Blieben nur die schmerzenden Füße.
Dottor Massimos Haus war nicht nur das größte an der Fondamenta Bollani, sondern auch das schönste. Die Säulen, die es schmückten, sahen aus wie zu Stein gewordene Blumen, die Brüstungen der Balkone schienen aus Marmorspitze gemacht und die schmiedeeisernen Gitter vor den Fenstern im Erdgeschoss und dem Eingangsportal schlangen sich zu Blüten und Blättern, als wäre nichts leichter aus Eisen zu formen.
Ein Dienstmädchen ließ Victor ein und führte ihn zwischen Säulen hindurch auf einen Innenhof, von dem eine prächtige Freitreppe steil in den ersten Stock führte. Das Mädchen stieg die breiten Stufen so schnell hinauf, dass Victor kaum Zeit blieb, sich etwas umzusehen. Als er sich über die Brüstung lehnte, um noch einen Blick auf den Brunnen im Hof zu werfen, drehte seine Führerin sich ungeduldig zu ihm um. »Dottor Massimo ist nur noch zehn Minuten zu sprechen«, erklärte sie spitz.
»Was hat der dottore denn so Dringendes vor?«, konnte Victor sich nicht verkneifen zu fragen.
Das Mädchen musterte ihn so ungläubig, als hätte er nach der Farbe von Dottor Massimos Unterhosen gefragt. Und Victor folgte ihr weiter, gerade so schnell, dass er sie nicht aus den Augen verlor in dem Labyrinth von Fluren und Türen, durch das sie ihn führte. So ein
Theater wegen einer Adresse, dachte er. Ich hätte einfach noch mal anrufen sollen.
Endlich, als er schon etwas außer Atem war und Paula in ihrem Karton bestimmt seekrank, blieb das Mädchen stehen und klopfte an eine Tür, die hoch genug für einen Riesen gewesen wäre. »Ja, bitte?«, rief die gleiche klangvolle Stimme, die Victor am Telefon ins Ohr geraunzt hatte. Dottor Massimo saß an seinem gewaltigen Schreibtisch in einem Arbeitszimmer, das größer als Victors ganze Wohnung war, und empfing seinen Besucher mit einem kühlen, abschätzenden Blick.
Victor räusperte sich. Er kam sich lächerlich vor in diesem prächtigen Raum, mit seinem Schildkrötenkarton unterm Arm und Schuhen, denen man die Laufarbeit deutlich ansah. Außerdem hatte er in Räumen, deren Decke so hoch über seinem Kopf schwebte, immer das unangenehme Gefühl zu schrumpfen. »Guten Tag, dottore«, sagte er. »Victor Getz. Wir haben gerade telefoniert. Leider haben Sie so schnell den Hörer aufgelegt, dass ich Ihnen gar nicht erklären konnte, worum es geht. Ich bin nicht hier, um Ihr altes Kino zu kaufen, sondern.«
Bevor Victor fortfahren konnte, öffnete sich hinter ihm die Tür. »Vater«, sagte eine Jungenstimme. »Ich glaube, die Katze ist krank.«
»Scipio!« Dottor Massimos Gesicht verfärbte sich vor Ärger. »Du siehst doch, dass ich Besuch habe. Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du anklopfen sollst. Wenn die Herren aus Rom nun schon da wären? Wie würde das aussehen, wenn mein Sohn in unsere Besprechung hereinplatzte wegen einer kranken Katze?« Victor drehte sich um und blickte in ein Paar erschrockene schwarze Augen. »Es geht ihr wirklich nicht gut«, murmelte Dottor Massimos Sohn und senkte hastig den Kopf, aber Victor hatte ihn sofort erkannt. Sein Haar war zu einem strengen, kleinen Zopf zusammengebunden und seine schwarzen Augen blickten nicht so selbstbewusst wie bei ihrer letzten Begegnung, aber er war es ohne Zweifeclass="underline" der Junge, der Prosper und Bo geholfen hatte zu entkommen, der Junge, der Victor so unschuldig nach der Zeit gefragt hatte, bevor er und seine Freunde ihn auf die hinterlistigste Weise hereingelegt hatten.
Die Welt steckte voller Überraschungen.
»Dass sie krank ist, liegt wahrscheinlich daran, dass sie Junge hatte«, verkündete Dottor Massimo mit gelangweilter Stimme. »Da lohnt es sich nicht, einen Tierarzt zu bezahlen. Wenn sie eingeht, bekommst du eine neue.« Ohne seinen Sohn weiter zu beachten, wandte der dottore sich wieder Victor zu. »Also, fahren Sie fort, Signor.«
»Getz«, wiederholte Victor, während Scipio immer noch stocksteif hinter ihm stand. »Also, wie ich schon sagte, ich will das STELLA keineswegs kaufen.« Aus dem Augenwinkel sah Victor, wie Scipio zusammenfuhr, als er den Namen des Kinos hörte. »Ich schreibe einen Artikel über die Kinos der Stadt, das STELLA würde ich gern einbeziehen, und deshalb brauche ich von Ihnen die Erlaubnis, es zu besichtigen.«
»Interessant«, sagte der dottore und warf einen Blick aus dem Fenster, wo unten auf dem Kanal gerade ein Wassertaxi anlegte. »Entschuldigen Sie, aber ich glaube, mein Besuch aus Rom trifft gerade ein. Selbstverständlich haben Sie meine Erlaubnis, das STELLA zu besichtigen. Es liegt in der Calle del Paradiso. Schreiben Sie, dass es eine Schande für diese Stadt ist, dass ein so gutes Filmtheater geschlossen werden musste. Hier hat offensichtlich nur noch Bestand, was die Touristen interessiert.«
»Warum wurde es geschlossen?«, fragte Victor. Scipio stand immer noch an der Tür und lauschte mit angstvollem Gesicht dem, was Victor und sein Vater besprachen. »Ein Gutachter vom Festland erklärte es für baufällig!« Dottor Massimo stand von seinem Schreibtisch auf, trat auf einen Schrank mit zahllosen Schubladen zu und zog eine heraus. »Baufällig! Die ganze Stadt ist baufällig«, stellte er verächtlich fest. »Man hat von mir eine Renovierung verlangt, die nicht zu bezahlen war. Unsummen hätte das gekostet! Wo ist denn der Schlüssel? Mein Verwalter hat ihn doch schon vor Monaten hergebracht.« Ungeduldig suchte er in der Schublade herum. »Scipio, komm, hilf mir suchen, wenn du schon da rumstehst.«
Victor hatte den Eindruck, dass Scipio gerade zu dem Entschluss gekommen war, sich davonzuschleichen. Die Klinke hatte er schon heruntergedrückt, aber als der Dottore ihn zu sich winkte, schob er sich mit blassem Gesicht an Victor vorbei und ging zögernd zu seinem Vater.