Das Licht der Taschenlampe fiel auf einen Teddybären, einen Stoffhasen, Angelruten, einen Werkzeugkoffer, Stapel von Büchern und ein Plastikschwert, das aus einem Schlafsack ragte. An der Wand und den Lehnen der Sitze klebten Fotos und Bilder, ausgeschnitten aus Zeitschriften und Comicheften. Plakate. Leuchtsterne. Sticker. Über einer Matratze waren Blumen an die Wand gemalt, bunt und groß, Fische, Boote, eine Piratenfahne. Er stand in einem Kinderzimmer. Einem riesigen Kinderzimmer. Ich hätte was auf die Ohren gekriegt, wenn ich mir eine Piratenfahne auf die Tapete gepinselt hätte, dachte Victor. Für einen kurzen Moment verspürte er den verrückten Wunsch, sich auf eine der Matratzen zu legen, ein paar von den Kerzen anzuzünden, die überall herumstanden, und alles zu vergessen, was zwischen seinem neunten Geburtstag und dem jetzigen Tag passiert war. Da hörte er wieder ein Geräusch. Victors Nackenhaar sträubte sich.
Da war jemand. Ganz sicher. Und es war ein Mensch. Die Anwesenheit eines Menschen fühlte sich anders an als die eines Tieres, anders als die einer Taube oder einer Maus. Victor vergaß die Matratzen und schlich auf die Klappsitze zu. Waren sie wirklich so dumm, sich auf ein Versteckspiel mit ihm einzulassen? Glaubten sie, dass er dieses Spiel nicht mehr beherrschte, nur weil er erwachsen war? »Da muss ich euch enttäuschen!«, sagte Victor laut. »Ich war schon immer ein erstklassiger Sucher beim Versteckspielen. Und beim Kriegen habe ich sie alle gefangen. Trotz meiner kurzen Beine. Ihr könnt also genauso gut gleich aufgeben.« Seine Stimme klang fremd, als sie durch den Kinosaal hallte. »Was glaubt ihr?«, rief er, während er zwischen die roten Sessel leuchtete. »Dass das hier ewig so weiterlaufen kann? Wovon ernährt ihr euch? Vom Klauen? Wie lange soll das noch gut gehen? Na ja, das ist nicht meine Angelegenheit. Ich bin sowieso nur an zweien von euch interessiert. Für den Größeren steht ein Internatsplatz bereit, für den Kleineren sogar ein Zuhause. Ein echtes Zuhause. Essen satt, Betten, ein normales Leben. Da kann man doch ein bisschen Haarsprayduft in Kauf nehmen.«
Zum Teufel, was rede ich da?, dachte Victor und blieb stehen. Das hört sich ja nicht sehr verlockend an. Außerdem bin ich zu alt, um in einem stockdunklen Kino mit einer Bande Kinder Verstecken zu spielen.
»He, Victor, fang mich doch!«, rief plötzlich eine Stimme. Eine helle Stimme. Victor kannte sie. Der glitzernde Vorhang bekam plötzlich eine Beule. »Hast du eigentlich eine Pistole?«, fragte die Stimme hinter dem sternenbestickten Stoff, und Bos tintenschwarz gefärbter Kopf schob sich zwischen den Falten hervor. »Natürlich!« Victor schob die Hand unter seine Jacke, als griffe er nach seinem Revolver. »Willst du sie dir mal ansehen?« Langsam trat Bo aus seinem Versteck. Mit schief gelegtem Kopf stand er da und guckte Victor an. Wo steckte Prosper, sein großer Bruder? Victor blickte nach links, nach rechts, über die Schulter, aber überall sah ihn nur die Dunkelheit an mit ihrem schwarzen Gesicht.
»Ich hab keine Angst«, sagte Bo. »Das ist bestimmt nur eine Gummipistole.«
»So, so, denkst du.« Victor verkniff sich ein Grinsen.
»Du bist ja ein ganz Schlauer.« Er ließ den Kleinen nicht aus den Augen. Leider hatte er dadurch die Sitzreihe neben sich nicht im Blick. Und als er spürte, wie sich zwischen den Klappsesseln links und rechts von ihm etwas regte, war es schon zu spät. Bevor Victor wusste, wie ihm geschah, warfen sich fünf Kinder auf ihn. Sie rissen ihn von den Füßen, warfen ihn zu Boden wie einen Sack Kaffeebohnen und setzten sich auf seinen Bauch. Sosehr er auch um sich schlug und trat, Victor schaffte es nicht, sich zu befreien. Die Taschenlampe war ihm aus der Hand gefallen und rollte über den Boden, leuchtete mal hierhin, mal dahin. Victor glaubte das Mädchen zu erkennen, das ihm die Frauen mit den Handtaschen auf den Hals gehetzt hatte. Es hielt seinen rechten Arm fest, der Mohrenkopf hielt seinen linken gepackt, und zwei andere, wahrscheinlich Prosper und der Igel, klammerten sich an seine Beine. Mitten auf Victors Brust aber, mit einem schadenfrohen Lächeln auf dem schmalen Gesicht, die schwarzen Augen spöttisch zusammengekniffen, thronte Scipio und drückte dem Gefangenen die Knie in die Seiten wie einem widerspenstigen Pferd. »Verdammter kleiner Bastard!«, brüllte Victor. »Du.« Weiter kam er nicht. Scipio stopfte ihm einfach einen Lappen zwischen die Zähne. Einen stinkenden, feuchten Lappen, der nach nassem Katzenfell roch.
»Was machst du da? Sollen wir ihn nicht erst aushorchen?«, fragte der schwarze Junge verblüfft. »Wir wissen doch nicht mal, ob er wirklich nur hinter Prosper und Bo her ist.«
»Genau!« Der Igel bohrte nervös die Zungenspitze zwischen die Zähne. »Lass ihn uns fragen, wie er uns gefunden hat, Scipio.«
»Ach was, der erzählt uns doch sowieso nur Lügen«, antwortete Scipio. »Fesselt ihn lieber.«
Zögernd holten die anderen alles, was sie an Stricken und Gürteln finden konnten. Sie verschnürten Victor, bis er aussah wie eine Seidenraupe. Das Einzige, was er noch konnte, war, wütend mit den Augen zu rollen.
»Ihr tut ihm doch nicht weh, oder?« Das war Bo. Mit besorgtem Gesicht beugte er sich über ihn. Plötzlich kicherte er. »Du siehst komisch aus, Victor«, stellte er fest. »Bist du wirklich ein Detektiv?«
»Ja, das ist er, Bo.« Prosper schob seinen kleinen Bruder zur Seite, bückte sich und durchsuchte Victors Taschen. »Ein Telefon«, sagte er, »und. tatsächlich«, vorsichtig hielt er Victors Revolver hoch, »guckt euch das an, ich dachte, er schneidet nur auf.«
»Gib her, ich versteck das.« Wespe nahm Prosper die Pistole so behutsam aus den Händen, als fürchte sie, das Ding könne ihr zwischen den Fingern explodieren. »Guckt nach, was er noch dabeihat!«, befahl Scipio und erhob sich von Victors Brust. Nachdenklich stand er da und blickte auf seinen Gefangenen herunter. »Tja, Herr Detektiv«, sagte er mit leiser, drohender Stimme. »Legen Sie sich nicht mit dem Herrn der Diebe an.« Dann gab er den anderen einen Wink. »Los, schafft ihn ins Männerklo.«
Nächtlicher besuch
Sie legten für Victor eine Decke auf die kalten Fliesen. Immerhin. Trotzdem hatte er es nicht gerade gemütlich. Gefangen und gefesselt, das war ihm noch nie passiert. Eingeschlossen in ein altes Kinoklo, von einer Bande Kinder! Und Dottor Massimos feiner Sohn hatte ihm so schnell den Knebel zwischen die Zähne gestopft, dass er nicht einmal dazu gekommen war, den kleinen Bastarden zu sagen, dass draußen vor der Tür in einem zugigen Karton eine arme erkältete Schildkröte lag.
Die Stunden verstrichen und Victor dachte immer wieder dasselbe: Ich hätte es wissen müssen! Ich hätte es wissen müssen, als diese spitznasige Esther in mein Büro gekommen ist mit ihrem quittengelben Mantel. Gelb war schon immer seine Unglücksfarbe gewesen.
Er versuchte gerade zum zwanzigsten Mal vergeblich, an seinen Schuh zu kommen, weil sich in dessen Absatz ein paar nützliche Hilfsmittel für Notfälle befanden, als plötzlich hinter seinem Rücken die Tür aufging. Ganz leise, als hätte der, der da hereinschlich, etwas vor, das unbemerkt bleiben sollte. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Wahrscheinlich nichts Gutes. Beunruhigt versuchte Victor sich umzudrehen.
Eine Taschenlampe leuchtete ihm ins Gesicht und jemand kniete sich neben ihm auf die kratzige Decke.
Prosper. Erleichtert seufzte Victor auf. Er wusste selbst nicht, wieso, denn Prosper musterte ihn alles andere als freundlich. Aber er befreite ihn wenigstens von dem stinkenden Knebel. Victor spuckte erst einmal aus, um den ekelhaften Geschmack in seinem Mund loszuwerden. »Hat euer schwarzäugiger Boss das erlaubt?«, fragte er. »Ich wette, er wollte mich vergiften mit diesem Lappen.«
»Scipio ist nicht unser Boss«, antwortete Prosper und half Victor sich aufzusetzen.
»Nein? Benehmen tut er sich aber so.« Stöhnend lehnte Victor sich gegen die geflieste Wand. Jeder Knochen tat ihm weh. »Die Hände machst du mir nicht los, was?« »Seh ich aus wie ein Dummkopf?«