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»Nein. Wahrscheinlich bist du aber nicht halb so abgebrüht, wie du gerade tust«, knurrte Victor, »deshalb geh und hol den Karton rein, der draußen vor dem Kino steht.«

Prosper sah ihn misstrauisch an, aber er holte den Karton. »Wusste gar nicht, dass Schildkröten zur Detektiv-Ausstattung gehören«, sagte er, als er die Schachtel neben Victor auf den Boden stellte.

»Ach, du bist ein Witzbold, was? Hol sie raus! Ich kann nur hoffen, dass es ihr gut geht, sonst bekommt ihr einen Höllenärger mit mir.«

»Haben wir den nicht sowieso schon?« Prosper hob die Schildkröte vorsichtig aus dem Sand, den Victor ihr in den Karton gestreut hatte. »Sieht etwas vertrocknet aus.«

»So sieht sie immer aus«, brummte Victor. »Aber sie braucht frischen Salat, Wasser und einen kleinen Spaziergang. Los, lass sie ein bisschen auf der Decke rumstapfen.«

Prosper verkniff sich ein Lächeln, aber er tat, was Victor verlangte.

»Sie heißt Paula und ihr Mann sitzt jetzt victorseelenallein in seinem Karton unter meinem Schreibtisch und macht sich Sorgen.« Victor bewegte seine Zehen, sie kribbelten abscheulich. »Um den müsst ihr euch also auch kümmern, wenn ihr mich hier wie einen Rollmops lagern wollt.«

Jetzt konnte Prosper nicht mehr anders, er musste grinsen. Er wandte das Gesicht ab, aber Victor sah es trotzdem. »Sonst noch was?«

»Nein.« Victor versuchte sich in eine etwas bequemere Position zu setzen, doch viel brachte das nicht. »Fangen wir mit der Unterhaltung an. Deshalb bist du doch gekommen, oder?« Prosper fuhr sich durch das dunkle Haar und lauschte nach draußen. Ein leises Schnarchen drang durch die Tür. »Das ist Mosca«, sagte Prosper. »Er soll eigentlich Wache halten, aber er schläft fest wie ein Baby.«

»Wieso Wache halten?« Victor musste gähnen. »Wo soll ich denn hin, eingewickelt wie eine Seidenraupe?« Prosper zuckte die Achseln. Er stellte die Taschenlampe neben sich auf den Fußboden und musterte angestrengt seine Fingernägel. »Sie sind hinter mir und meinem Bruder her, stimmt's?«, fragte er, ohne Victor anzusehen. »Meine Tante hat Sie beauftragt.«

Victor zuckte die Achseln. »Deine kleine Freundin hat mir doch mein Portemonnaie geklaut. Dadrin hast du bestimmt die Visitenkarte gefunden.«

Prosper nickte. »Wie hat Esther rausgekriegt, dass wir in Venedig sind?« Er legte die Stirn auf die angezogenen Knie. »Hat einige Zeit und viel Geld gekostet, wie dein Onkel mir erzählte.« Victor ertappte sich dabei, dass er den Jungen mitfühlend musterte. »Wenn ich nicht in Sie reingelaufen wäre, hätten Sie uns nie gefunden.«

»Kann sein. Euer Versteck ist ziemlich ungewöhnlich.« Prosper sah sich um. »Scipio hat es gefunden. Scipio sorgt auch dafür, dass wir genug Geld zum Leben haben. Wir wären alle schlimm dran ohne ihn. Riccio hat früher viel gestohlen, Mosca, Wespe und er kennen sich schon länger. Es ging ihnen, glaub ich, ziemlich schlecht, bis sie Scipio getroffen haben. Sie sprechen nicht gern davon. Später hat Wespe dann mich und Bo aufgelesen, und Scipio hat uns aufgenommen.« Prosper hob den Kopf. »Warum erzähl ich Ihnen das eigentlich alles? Sie sind doch ein Detektiv, Sie haben das bestimmt schon alles rausgefunden, oder?« Aber Victor schüttelte den Kopf. »Deine Freunde gehen mich nichts an«, sagte er. »Ich soll nur dafür sorgen, dass ihr, du und dein Bruder, wieder ein Zuhause habt. Hast du nicht inzwischen selber festgestellt, dass Bo zu klein ist, um ohne Eltern zurechtzukommen? Was passiert, wenn dieser Herr der Diebe, wie er sich ja wohl nennt, nicht mehr für euch sorgt? Oder wenn die Polizei euch hier aufstöbert? Willst du, dass Bo in einem Waisenhaus landet? Und was dich betrifft, wäre es nicht einfacher, auf irgendeinem Internat die Lehrer zu ärgern, statt mit zwölf Jahren den Erwachsenen zu spielen?«

Prospers Gesicht versteinerte. »Ich sorge gut für Bo«, erwiderte er ärgerlich. »Oder sieht er etwa unglücklich aus? Ich würde auch Geld für uns verdienen, wenn man mich ließe.«

»Das musst du noch früh genug«, antwortete Victor. Prosper verbarg das Gesicht in seinen verschränkten Armen. »Ich wünschte, ich war schon erwachsen«, murmelte er.

Mit einem tiefen Seufzer lehnte Victor den Kopf gegen die kalte Wand. »Erwachsen, so, so. Herrgott, soll ich dir ein Geheimnis verraten? Ich wundere mich immer noch, wenn ich in den Spiegel schau und mir mein altes Gesicht angucke. Victor, denk ich manchmal, du bist ja schon ganz schön groß geworden. Als Kind wollte ich auch immer erwachsen sein. Ich habe mir sogar mal einen Zaubertrank gebraut, aus Rasiercreme, Bier und anderen scharf riechenden Sachen, die mein Vater gern zu sich nahm. Hat nicht gewirkt. Gott, war mir schlecht damals. Aber dein Bruder hat, glaube ich, eine Menge Spaß daran, ein Kind zu sein, oder?«

»Das würde Esther ihm schon gründlich austreiben«, antwortete Prosper. »Sie hält nicht viel von Spaß. Und ihr Mann schon gar nicht.«

»Da könntest du Recht haben.« Victor seufzte. »Ich schätze, eure Mutter war ihrer Schwester nicht besonders ähnlich, was?« Prosper schüttelte den Kopf. »He, wo ist die Schildkröte?«, fragte er besorgt, stand auf und öffnete die Tür der einzigen Toilettenkabine. Suchend leuchtete er mit der Taschenlampe in den engen Verschlag. »Komm her!«, hörte Victor ihn leise rufen. »Wo willst du denn hin, hier gibt es nichts zu entdecken.«

»Ich glaube, wir sollten Paulas Spaziergang beenden«, sagte Victor, als Prosper mit der Schildkröte auf dem Arm zurückkam. »Sie holt sich nur kalte Füße auf den Fliesen. Das ist bestimmt nicht gut für ihre Erkältung.« »Stimmt«, murmelte Prosper, setzte Paula vorsichtig zurück in ihren Karton und hockte sich wieder neben Victor auf die Decke. »Haben Sie auch einen Bruder?«, fragte er.

Victor schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hatte keine Geschwister. Aber ist es nicht so, dass Geschwister auch eine ziemliche Plage sein können?«

»Kann sein.« Prosper zuckte die Achseln. »Bo und ich, wir haben uns immer gut vertragen. Na ja, fast immer. Verdammt.« Er fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen. »Jetzt fang ich auch noch an zu heulen.«

Victor räusperte sich.»Deine Tante sagt, ihr seid hierher gekommen, weil eure Mutter euch so viel von Venedig erzählt hat.« Prosper putzte sich die Nase. »Stimmt«, sagte er mit belegter Stimme. »Das hat sie. Und es ist alles so, wie sie erzählt hat. Als wir am Bahnhof aus dem Zug stiegen, Bo und ich, da hatte ich plötzlich Angst, dass sie sich alles nur ausgedacht hat, die Häuser auf Stelzen, die Straßen aus Wasser, die geflügelten Löwen. Aber es war alles wahr. Die Welt ist voller Wunder, hat sie immer zu uns gesagt.«

Victor schloss für einen Augenblick die Augen. »Hör mal zu, Prosper«, sagte er müde. »Vielleicht kann ich ja noch mal mit deiner Tante reden. damit sie euch beide nimmt.« Prosper presste ihm die Hand auf den Mund. Jemand war vor der Tür. Und es war nicht Mosca. Dessen Schnarchen war immer noch deutlich zu hören. »Bo!«, zischte Prosper, als sich ein tintenschwarzer Kopf durch die Tür schob. »Was suchst du denn hier? Geh sofort wieder schlafen!«

Doch Bo war schon zu ihnen hereingeschlüpft. »Was machst du hier, Prop?«, murmelte er verschlafen. »Willst du Victor in den Kanal schmeißen?«

»Wie kommst du denn auf so was?« Prosper guckte seinen Bruder entgeistert an. »Los, geh ins Bett zurück.« Bo zog die Tür leise hinter sich zu. »So wie Mosca könnte ich auch Wache halten!«, sagte er und trat fast in den Schildkrötenkarton. Erschrocken zog er den Fuß zurück.

»Darf ich vorstellen?«, sagte Victor. »Das ist Paula.« »Hallo, Paula«, murmelte Bo und hockte sich zwischen Prosper und Victor auf die Decke. Nachdenklich bohrte er den Finger in die Nase und starrte Victor an. »Du bist ein ziemlich guter Lügner, was?«, sagte er. »Willst du uns wirklich für Esther fangen? Wir gehören ihr aber gar nicht.«

Victor starrte verlegen seine Schuhspitzen an. »Na ja, Kinder müssen nun mal irgendwo hingehören«, brummte er. »Gehörst du jemandem?«