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»Dann müssen wir aber seinen Schildkrötenmann füttern«, sagte Bo. »Damit er nicht verhungert, bis wir Victor laufen lassen.«

»Seinen Schildkrötenmann?« Mosca verschluckte sich fast an seinem kalten Kaffee.

»Er wohnt unter Victors Schreibtisch«, murmelte Prosper und spielte gedankenverloren mit einem von Bos Plastikfächern herum. »Seine Frau sitzt in einem Pappkarton bei Victor im Klo. Ihr müsst aufpassen, dass ihr nicht auf sie drauftretet, wenn ihr reingeht.« Ungläubig starrte Mosca ihn an.

»Na, hab ich vielleicht nicht Recht?«, rief Riccio aufgebracht. »Wo gibt's denn so was, dass man sich um die Haustiere von seinen Gefangenen kümmern muss? Habt ihr schon mal einen Film gesehen, wo die Gangster die Schildkröte oder Katze von irgendwem füttern?« »Wir sind aber keine Gangster!«, unterbrach Wespe ihn ärgerlich. »Und deshalb lassen wir auch keine unschuldigen Schildkröten verhungern. Los, bring dem Kerl endlich seinen Kaffee, Mosca.«

Die Casa Spavento

Als Riccio und Wespe aufbrachen, um sich wie verabredet mit Scipio am Campo Santa Margherita zu treffen, schloss Prosper sich ihnen an.

Mehr als zwei Tage war er nicht aus dem Versteck gekommen, aus Angst vor Victor, und er sehnte sich nach frischer Luft. Mosca blieb bereitwillig bei ihrem Gefangenen, denn er hatte immer noch ein schlechtes Gewissen wegen der verschlafenen Nachtwache. Und Bo wollte unbedingt auf die einsame Schildkröte aufpassen, wohl, weil er keine Lust hatte, den ganzen weiten Weg zum Campo Santa Margherita zu laufen. »Gut, dann kannst du auch gleich aufpassen, dass deine Kätzchen nicht wieder die Taube jagen«, sagte Wespe, bevor sie ihm zum Abschied einen dicken Kuss gab. »Wir brauchen sie nämlich noch.«

»Weiß ich doch«, brummte Bo, und die Taube Sofia, die aufgeplustert auf der Lehne eines Klappsessels hockte, ließ, wie zur Bekräftigung von Wespes Worten, einen weißen Klecks Taubendreck auf den Sitz fallen.

Seufzend holte Mosca einen Lappen und machte sich ans Saubermachen.

Es war wirklich ein weiter Weg zum Campo Santa Margherita. Der Platz lag in Dorsoduro, dem südlichsten

Stadtteil von Venedig, jenseits des Canal Grande. Die Häuser, die ihn säumten, waren vielleicht nicht so prachtvoll und anmutig wie die an anderen Plätzen der Stadt, aber viele standen schon seit mehr als fünfhundert Jahren. Es gab kleine Geschäfte, Cafes, Restaurants, jeden Morgen einen Fischmarkt und in der Mitte des Platzes den Zeitungskiosk, von dessen Besitzer Riccio so viel über Ida Spavento erfahren hatte. Am Campanile von Santa Margherita wachte ein steinerner Drache, und Riccio behauptete, dass zu seinen Füßen früher Stiere und Bären gejagt worden waren, wie auf dem Campo San Polo im Norden der Stadt.

Der sonst so belebte Platz lag fast ausgestorben da, als die drei Kinder ihn betraten. Es war ein kalter, regnerischer Tag, und die Stühle vor den Cafes waren leer, nur ein paar Frauen schoben ihre Kinderwagen an den Tischen vorbei. Auf den Bänken unter den kahlen Bäumen saßen alte Männer und schauten missmutig zum Himmel hinauf, der heute aussah, als hätte jemand ein graues Laken über die Stadt gespannt. Selbst der Putz der Häuser schien schmutzig und leblos und konnte sein Alter an diesem trüben Tag nicht verbergen.

Das Haus, dem sie bald ihren nächtlichen Besuch abstatten wollten und dessen Grundriss nicht nur Mosca inzwischen im Schlaf vor sich sah, schien auch von besseren Tagen zu träumen. Es sah keineswegs so aus, als berge es hinter den ockerfarbenen Mauern einen Schatz, für den jemand fünf Millionen Lire zu zahlen bereit war. Den Garten an der Rückseite, verborgen im Gewirr der Häuser, fand nur, wer davon wusste. Durch eine dunkle, überbaute Gasse gelangte man zu ihm, dessen Eingang kaum mehr war als ein schwarzes Loch zwischen der Casa Spavento und ihrem Nachbarhaus. Riccio hatte die Gasse bereits erkundet, zusammen mit Mosca. Sogar die Mauer waren sie schon hinaufgeklettert, hinter der der Garten lag, hatten hinübergespäht auf winterkahle Beete und kiesbestreute Wege. Und heute wollte Riccio sich noch einmal mit Scipio hinschleichen. Aber Scipio kam nicht. Die Zeit verstrich, und Riccio, Prosper und Wespe warteten immer noch vor dem Zeitungskiosk. Hunde schnüffelten an ihnen, Katzen schlichen sich an fette Tauben heran, und Frauen schleppten schwere Einkaufstüten über das nasse Pflaster, aber Scipio tauchte nicht auf.

»Seltsam!«, sagte Wespe und hüpfte frierend von einem Fuß auf den anderen. »So sehr hat er sich noch nie verspätet, wenn wir irgendwo verabredet waren.« »Warum wollte er sich eigentlich hier mit euch treffen?«, fragte Prosper. »Will er sich am helllichten Tag das Türschloss angucken?«

»Unsinn! Letzte Besichtigung des Tatorts oder so«, murmelte Riccio. »Woher sollen wir das wissen? Außerdem ist es an der Mauer auch am Tag ziemlich düster, Mosca und mir ist da bisher auch niemand begegnet. Hat Scipio euch mal erzählt, wie er im Palazzo Falier einer Frau die Ringe von den Fingern gezogen hat, während sie schlief?«

»Ja, ja, wir kennen jede einzelne von Scipios Geschichten, genau wie du.« Wespe seufzte und sah sich mit gerunzelter Stirn um. »Keine Spur von ihm. Was ist bloß los?«

»He, sieh mal da!« Riccio fasste nach ihrem Arm. »Da kommt die Haushälterin der Spavento vom Einkaufen!« Eine dicke Frau watschelte über den Platz, in einer Hand die Leinen von drei Hunden, in der anderen zwei voll gestopfte Einkaufstaschen. Die Hunde kläfften jeden an, der in die Nähe ihrer kleinen Schnauzen kam, und die Dicke musste sie immer wieder zurück an ihre Seite zerren.

»Na, so ein Zufall!«, flüsterte Riccio und sah ihr neugierig hinterher.

»Das mit den Hunden gefällt mir nicht«, raunte Wespe. »Was, wenn sie doch im Haus sind, wenn wir uns reinschleichen? So klein sind sie nun auch wieder nicht.«

»Ach, mit denen werden wir schon fertig.« Riccio steckte eine Zeitschrift, in der er geblättert hatte, zurück in den Ständer, strich sich über das struppige Haar und zwinkerte den anderen beiden zu. »Wartet hier.«

»Was hast du vor?«, flüsterte Wespe besorgt. »Mach keinen Blödsinn.«

Aber Riccio schlenderte schon pfeifend über den Platz. Überall schien er dabei hinzublicken, nur nicht in die Richtung von Signora Spaventos Haushälterin, die sichtlich Mühe hatte, mit dem Tempo ihrer Hunde Schritt zu halten. »Aus dem Weg!«, trompetete die Dicke.

Aber Riccio dachte gar nicht daran. Gerade als sie an Riccio vorbeisteuerte, trat er ihr so plötzlich in den Weg, dass sie nicht mehr ausweichen konnte. Die zwei prallten zusammen, die voll gestopften Taschen landeten auf dem Pflaster des Platzes und die Hunde sprangen bellend Äpfeln und Kohlköpfen hinterher, die über die regennassen Steine rollten.

»Verdammt, was hat der Igel vor?«, flüsterte Wespe Prosper zu. Eifrig sprang Riccio den Kohlköpfen nach, während die Signora sich schimpfend bückte, um die Äpfel aufzuklauben. »Bist du des Teufels, mir so in den Weg zu stolpern?«, hörten sie die Dicke schimpfen. »Scusi!« Riccio lächelte sie so breit an, dass er all seine schlechten Zähne entblößte. »Ich such doch bloß die Praxis von Doktor Spavento, dem Zahnarzt. Ist sie in dem Haus da?«

»Unsinn!«, antwortete die Dicke barsch. »Hier wohnt kein Zahnarzt. Auch wenn du bestimmt dringend einen nötig hättest. Das ist das Haus von Signora Ida Spavento, sie ist die Einzige, die darin wohnt, und jetzt geh mir aus dem Weg, bevor ich einen Kohlkopf nach dir werfe.«