»Tut mir wirklich Leid, Signora.« Riccio machte ein so zerknirschtes Gesicht, dass selbst Prosper und Wespe, die unauffällig ein paar Schritte weiter standen, fast darauf hereingefallen wären. »Soll ich Ihnen vielleicht helfen, die Taschen ins Haus zu tragen?«
»Ach, sieh mal einer an - ein echter Kavalier!« Die Dicke strich sich eine graue Haarsträhne aus der Stirn und blickte schon etwas wohlwollender auf Riccio herab. Aber dann runzelte sie plötzlich die Stirn. »Moment mal. Willst du etwa an diesem kleinen Unfall auch noch etwas verdienen, du Schlitzohr?« Gekränkt schüttelte Riccio den Kopf. »Kein Gedanke, Signora!« »Va bene, dann nehme ich das Angebot an!« Signora Spaventos Haushälterin hielt Riccio die Taschen hin und schlang die Hundeleinen fest um das fleischige Handgelenk. »Schließlich hab ich nicht oft das Glück, dass mir ein Kavalier über den Weg läuft.« In sicherem Abstand schlenderten Wespe und Prosper den beiden nach. Und beobachteten, wie Riccio sich noch einmal mit einem triumphierenden Lächeln zu ihnen umdrehte, bevor er im Haus von Ida Spavento verschwand.
Es dauerte ziemlich lange, bis er wieder herauskam. Wie ein kleiner Graf blieb er in der Eingangstür stehen, zufrieden mit sich und der Welt, und leckte an dem gewaltigen Eis, das er als Lohn für so viel schwere Arbeit bekommen hatte. Dann zog er lässig die Tür hinter sich zu und lief zurück zu Wespe und Prosper. »Keine Riegel von innen!«, raunte er ihnen mit Verschwörermiene zu. »Nicht mal zwei Schlösser. Große Angst vor Einbrechern scheint diese Signora Spavento wirklich nicht zu haben.« »War sie auch zu Hause?«, fragte Prosper und blickte zu dem Balkon über der Eingangstür hinauf.
»Ich hab sie nicht gesehen.« Riccio ließ Wespe an seinem Eis lecken. »Aber die Küche ist genau da, wo sie auf dem Grundriss eingezeichnet war, ich hab der Dicken die Tüten hingeschleppt. Also stimmt es wohl auch, dass das Schlafzimmer unterm Dach ist. Ich sag euch, wenn Signora Ida Spavento wirklich so früh schlafen geht, wie es aussieht, wird das Ganze leichter als Kerzen klauen.«
»Ja, ja, freu dich mal nicht zu früh!«, murmelte Wespe und musterte voll Unbehagen die fremden Fenster, in deren Scheiben sich grau der Himmel spiegelte.
»Warte, das Beste kommt noch!«, flüsterte Riccio. »Von der Küche führt eine Hintertür hinaus in den Garten. Die war nicht eingezeichnet. Und - haltet euch fest - die hat auch keine Riegel. Diese Signora Spavento ist wirklich sehr leichtsinnig, oder?«
»Du vergisst immer wieder die Hunde«, entgegnete Wespe. »Was, wenn sie doch nicht der Haushälterin gehören und deine Würste nicht mögen?«
»Ach was, alle Hunde lieben Würste, stimmt's, Prop?« Prosper nickte nur und blickte auf seine Uhr. »Verdammt. Es ist schon fast eins«, murmelte er besorgt, »und Scipio ist immer noch nicht da. Hoffentlich ist ihm nichts passiert!«
Sie warteten noch eine halbe Stunde. Dann war selbst Riccio überzeugt, dass der Herr der Diebe nicht mehr kommen würde. Mit bedrückten Gesichtern machten sie sich auf den Weg zur Wohnung ihres Gefangenen, um seine verlassene Schildkröte zu füttern. »Ich versteh das nicht«, sagte Riccio, als sie vor Victors Haustür standen. »Was kann denn bloß passiert sein?«
»Ach, wahrscheinlich ist gar nichts passiert«, sagte Wespe, als sie sich die steile Treppe zu Victors Büro hinaufquälten. »Wenn wir uns im Versteck verabredet haben, ist er schließlich schon oft zu spät gekommen.« Aber sie blickte genauso beunruhigt drein wie die anderen zwei.
Victors Schildkrötenmann sah wirklich einsam aus. Als Prosper und Wespe sich über seinen Karton beugten, traute er sich kaum, den Kopf aus dem Panzer zu schieben, erst als Prosper ihm ein Salatblatt hinhielt, streckte er den faltigen Hals heraus. Riccio ignorierte die Schildkröte. Er fand es immer noch lächerlich, sich um das Haustier eines Gefangenen zu kümmern. Stattdessen probierte er vor dem Spiegel Victors falsche Bärte aus. »He, guck mal, Prop!«, rief er und klebte sich Victors Walrossbart unter die Nase. »Hatte er das Ding nicht im Gesicht, als du mit ihm zusammengestoßen bist?«
»Kann schon sein«, antwortete Prosper und musterte Victors Schreibtisch. Unter dem Löwen, der als Briefbeschwerer diente, klemmte ein Foto von den beiden Schildkröten und neben der Schreibmaschine lagen dicht beschriebene Blätter Papier und ein angebissener Apfel.
»Und wie seh ich jetzt aus?«, fragte Riccio und strich sich über einen rotblonden Vollbart.
»Wie ein Waldgnom«, antwortete Wespe, zog ein Buch aus dem Regal, in dem Victor seine zerlesenen Kriminalromane sammelte, und machte es sich damit auf einem der Besucherstühle bequem. Prosper setzte sich in Victors Sessel und durchsuchte die Schreibtischschubladen. Nichts als Zettel und Büroklammern, ein Stempelkissen, eine Schere, Schlüssel, Postkarten, drei verschiedene Tüten Bonbons.
»Hat er zufällig Zigaretten da?« Riccio setzte sich eine falsche Nase auf.
»Der raucht nicht, der lutscht Bonbons«, antwortete Prosper und schob die Schubladen wieder zu. »Habt ihr irgendwo Akten gesehen? Er muss doch Akten über seine Fälle haben.«
»Ach was, der ist bloß Detektiv geworden, weil er sich gern verkleidet. So was wie Akten hat der bestimmt gar nicht.« Riccio klebte sich buschige Brauen über die Augen, drückte sich einen Hut auf das struppige Haar und versuchte seinem Gesicht einen würdevollen Ausdruck zu geben. »Was meint ihr? Ob ich später mal ungefähr so aussehe? Nur größer natürlich.«
»Irgendwas muss er sich doch aufschreiben.« Prosper hatte die Ordner gerade in Victors einzigem Schrank entdeckt, als das Telefon klingelte. Wespe hob nicht mal den Kopf. »Lass es klingeln«, murmelte sie. »Ist bestimmt nicht für uns.« Sie ließen es klingeln. Riccio probierte sämtliche Hüte, Bärte und Perücken aus und fotografierte sein Spiegelbild, bis der Film in Victors Kamera voll war, während Prosper am Schreibtisch saß und Victors Aktenordner durchsah. Nach zehn Minuten klingelte das Telefon wieder, gerade als Prosper das Foto von sich und Bo in einer Klarsichthülle entdeckte. Wie gebannt starrte er es an.
Wespe blickte von ihrem Buch auf. »Was ist das?«
»Nur ein Foto. Von mir und Bo. Meine Mutter hat es gemacht, an meinem elften Geburtstag.«
Das Telefon schrillte noch einmal. Und war wieder still. Prosper sah das Foto an. Ballte die Finger zur Faust, ohne es zu merken.
Wespe schob ihre Hand über den Schreibtisch und strich ihm über die verkrampften Finger. »Was hat der Schnüffler denn so aufgeschrieben über euch?«, fragte sie.
Prosper steckte das Foto in seine Jacke und schob ihr Victors gekritzelte Notizen hin. »Ist kaum zu entziffern.«
»Lass mal sehen.« Wespe legte ihr Buch weg und beugte sich über den Schreibtisch. »Oh, sehr sympathisch scheint er deine Tante auch nicht zu finden. Ich glaub, er nennt sie >Spitznase< und deinen Onkel >Kleiderschrank<. Haben kein Interesse an dem Älteren«, las sie vor. »Sieht eben nicht mehr aus wie ein Teddybär.« Wespe lächelte Prosper an. »Nein, das tust du wirklich nicht. Er ist gar nicht so dumm, dieser Schnüffler.« Schon wieder klingelte das Telefon. »Du meine Güte, ich hätte nicht gedacht, dass der seltsame Kerl so viel Kundschaft hat.« Entnervt griff Wespe zum Hörer. »Pronto!«, sagte sie mit verstellter Stimme. »Büro Victor Getz. Was kann ich für Sie tun?«
Riccio presste sich die Hand vor den Mund, um nicht loszuprusten, aber Prosper lauschte mit besorgtem Gesicht. »Wie war der Name?« Wespe gab Prosper ein Zeichen. »Hartlieb?«
Prosper zuckte zusammen, als hätte ihn jemand ins Gesicht geschlagen. Wespe drückte auf einen Knopf am Telefon, und Esthers Stimme schallte durch Victors Büro. Sie sprach nicht sehr schnell, aber ihr Italienisch war gut: ». versuche seit Tagen, Herrn Getz zu erreichen. Er hat mir doch gesagt, er wäre den Jungen auf der Spur. Er hat sogar angekündigt, mir ein Foto der beiden zu schicken, das er auf dem Markusplatz gemacht hat.«