Wespe ließ ihre Taschenlampe über die Wände schweifen. Ida Spaventos Küche hatte nichts Besonderes an sich. Töpfe, Pfannen, Gewürzgläser, eine Espressokanne, ein großer Tisch, ein paar Stühle.
»Soll einer von uns als Wache hier bleiben?«, fragte Riccio leise. »Wozu?« Wespe öffnete die Tür zum Flur und lauschte. »Die Polizei wird wohl kaum über die Gartenmauer kommen. Geh du voran!«, flüsterte sie Mosca zu. Mosca nickte und schob sich aus der Tür.
Sie führte hinaus auf einen engen Flur, genau wie auf dem Grundriss eingezeichnet, und schon nach wenigen Metern stießen sie auf die Treppe, die nach oben führte. Neben den Stufen hingen Masken an der Wand, unheimlich sahen sie aus im Licht der Taschenlampen. Eine ähnelte der, die Scipio immer trug. Die Treppe endete vor einer Tür. Mosca öffnete sie einen Spaltbreit, lauschte und winkte die anderen dann auf einen Flur hinaus, der etwas breiter war als der im Erdgeschoss. Zwei Deckenlampen beleuchteten ihn matt. Irgendwo pochte eine Heizung, sonst war alles still. Mosca legte warnend den Finger an die Lippen, als sie an der Treppe vorbeikamen, die nach oben führte. Besorgt blickten sie die schmalen Stufen hinauf.
»Vielleicht ist ja doch keiner zu Hause«, flüsterte Wespe. Das Haus kam ihr so ausgestorben vor mit all den stillen, dunklen Zimmern. Hinter den ersten beiden Türen waren ein Bad und eine winzige Abstellkammer, das wusste Mosca von dem Grundriss, den der Conte ihnen gegeben hatte.
»Aber jetzt wird es interessanter«, flüsterte er, als sie vor der dritten Tür standen. »Das müsste der salotto sein. Vielleicht hat Signora Spavento den Flügel ja übers Sofa gehängt.« Er wollte gerade die Hand auf die Klinke legen, als jemand die Tür öffnete. Mosca stolperte gegen die anderen, so erschrocken fuhr er zurück. Doch in der offenen Tür stand nicht Ida Spavento, sondern Scipio.
Der Scipio, der ihnen vertraut war. Er trug seine Maske, die hochhackigen Stiefel, die lange schwarze Jacke und dunkle Lederhandschuhe.
Riccio starrte ihn nur entgeistert an, aber Moscas Gesicht wurde starr vor Ärger. »Was machst du hier?«, fuhr er Scipio an. »Was macht ihr hier?«, zischte Scipio zurück. »Das ist mein Auftrag.«
»Halt bloß den Mund!« Mosca gab ihm einen Stoß vor die Brust, dass Scipio zurückstolperte. »Du verlogener Bastard! Du hast uns wirklich fein an der Nase herumgeführt. Der Herr der Diebe! Für dich ist das hier vielleicht ein Abenteuerspiel, aber wir brauchen das Geld, klar? Und deshalb werden wir den Flügel für den Conte stehlen. Sag schon, ist er dadrin?« Scipio zuckte nur die Schultern.
Mosca schob ihn unsanft zur Seite und verschwand in dem dunklen Zimmer.
»Wie bist du hier eigentlich reingekommen?«, knurrte Riccio Scipio an.
»Das war nicht besonders schwer, sonst wärt ihr ja wohl auch nicht hier«, antwortete Scipio spöttisch. »Und ich sag es jetzt noch mal. Ich bringe dem Conte den Flügel. Nur ich. Ihr kriegt euren Anteil, wie jedes Mal, aber jetzt verschwindet.«
»Du verschwindest«, sagte Mosca und tauchte wieder hinter ihm auf. »Sonst erzählen wir deinem Vater, dass sein feiner Sohn sich nachts in fremde Häuser schleicht!« Seine Stimme war so laut geworden, dass Wespe sich zwischen die zwei drängte. »Schluss jetzt!«, flüsterte sie. »Habt ihr vergessen, wo wir hier sind?« »Du kannst dem Conte sowieso nichts bringen, Herr der Diebe«, raunte Riccio Scipio gehässig zu. »Nicht mal eine Nachricht kannst du ihm schicken, weil wir nämlich seine Taube haben.« Scipio presste die Lippen zusammen. An die Taube hatte er offenbar nicht gedacht.
»Kommt«, raunte Mosca, ohne Scipio noch eines Blickes zu würdigen. »Lasst uns weitersuchen. Ich nehm mit Prosper die linke Tür, Riccio und Wespe die rechte.«
»Und wehe, du kommst uns in die Quere, Herr der Diebe!«, fügte Riccio hinzu.
Scipio antwortete nicht. Reglos stand er da und sah ihnen nach. Mosca, Riccio und Wespe waren schon hinter den Türen verschwunden, als Prosper sich noch mal umdrehte. Scipio stand immer noch da und rührte sich nicht.
»Geh nach Hause, Scip«, sagte Prosper leise. »Die anderen sind ziemlich wütend auf dich.«
»Ziemlich«, murmelte Bo und musterte Scipio mit besorgtem Gesicht.
»Und ihr?«, fragte Scipio. Als Prosper nicht sofort antwortete, drehte er sich mit einem Ruck um und lief zu der Treppe, die nach oben führte.
»Seht euch das an«, flüsterte Mosca, als Prosper Bo durch die offene Tür schob. »Laboratorio stand auf dem Grundriss, und ich hab mich gefragt, was das heißen soll. Es ist ein Fotolabor! Mit allem Drum und Dran.«
Bewundernd ließ er seine Taschenlampe durch den Raum streifen. »Scip ist nach oben gegangen«, sagte Prosper. »Was?«, fragte Mosca entgeistert und fuhr erschrocken herum, als Riccio und Wespe sich durch die Tür schoben. »Drüben im Esszimmer ist der Flügel auch nicht«, flüsterte Wespe. »Wie sieht es hier aus?«
»Scipio ist nach oben gegangen«, zischte Mosca. »Wir müssen ihm nach!«
»Nach oben?« Riccio fuhr sich durch das struppige Haar. Davor hatten sie alle Angst gehabt: dass sie hinauf in das Stockwerk schleichen mussten, wo die Besitzerin des Hauses ahnungslos in ihrem Bett lag und schlief.
»Der Flügel muss oben sein«, flüsterte Mosca. »Und wenn wir uns nicht beeilen, kriegt der Herr der Diebe ihn vor uns!«
Unschlüssig standen sie in dem dunklen Fotolabor und sahen sich an. »Mosca hat Recht«, murmelte Wespe. »Ich hoffe nur, die Treppe knarrt nicht so wie die andere.« Da ging plötzlich das Licht an. Rotes Licht. Erschrocken drehten die Kinder sich um. Jemand stand in der Tür, eine Frau in einem dicken Wintermantel, mit einer Jagdflinte unter dem Arm.
»Entschuldigt«, sagte Ida Spavento und richtete die Flinte auf Riccio, wohl, weil er ihr am nächsten stand. »Habe ich euch eingeladen?«
»Bitte! Bitte, nicht schießen!«, stammelte Riccio und streckte die Arme in die Höhe. Bo war schon hinter Prosper und Wespe verschwunden.
»Oh, ich habe eigentlich nicht vor zu schießen«, sagte Ida Spavento. »Aber ihr könnt es mir nicht verdenken, dass ich erst mal die alte Flinte geholt habe, als ich euer Geflüster gehört habe. Da gehe ich endlich mal wieder aus, und was finde ich bei meiner Rückkehr? Eine Bande kleiner Diebe, die mit Taschenlampen in meinem Haus herumschleicht! Ihr könnt froh sein, dass ich nicht gleich die Carabinieri gerufen habe.«
»Bitte! Rufen Sie nicht die Polizei!«, flüsterte Wespe. »Bitte nicht.«
»Na ja, vielleicht nicht. Ihr seht nicht sehr gefährlich aus.« Ida Spavento ließ die Flinte sinken, zog eine Schachtel Zigaretten aus der Manteltasche und steckte sich eine zwischen die Lippen. »Hattet ihr es auf meine Fotoapparate abgesehen? Die könnt ihr doch draußen auf den Gassen leichter bekommen.«
»Nein, wir. wollten nichts Wertvolles stehlen, Signora«, sagte Wespe mit stockender Stimme, »wirklich nicht.«
»Ach, nein? Was dann?«
»Den Flügel«, stammelte Riccio. »Und der ist ja nur aus Holz.« Er hielt die Hände immer noch hoch, obwohl der Gewehrlauf nur auf seine Füße gerichtet war.
»Den Flügel?« Ida Spavento lehnte das Gewehr an die Wand im Flur.
Mit einem erleichterten Seufzer ließ Riccio die Hände sinken, und Bo traute sich zögernd hinter Prospers Rücken hervor. Ida Spavento musterte ihn mit gerunzelter Stirn. »Na, da ist ja noch einer«, sagte sie. »Wie alt bist du? Fünf? Sechs?«
»Fünf«, murmelte Bo und starrte sie argwöhnisch an. »Fünf. Madonna! Ihr seid wirklich eine sehr junge Diebesbande.« Ida Spavento lehnte sich gegen den Türrahmen und sah sie einen nach dem anderen an. »Was mach ich jetzt mit euch? Brecht in mein Haus ein, wollt mich bestehlen. Was wisst ihr von dem Flügel? Und wer hat euch erzählt, dass ich ihn habe?«