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»Sie haben ihn also wirklich?« Riccio sah sie mit großen Augen an.

Ida Spavento antwortete nicht. »Was wolltet ihr mit ihm?«, wiederholte sie und klopfte die Asche von ihrer Zigarette. »Jemand hat uns beauftragt, ihn zu stehlen«, murmelte Mosca. Ida Spavento sah ihn ungläubig an.

»Beauftragt? Wer?«

»Das verraten wir nicht!«, sagte eine Stimme hinter ihr. Überrascht drehte Ida Spavento sich um. Aber ehe sie wusste, wie ihr geschah, griff Scipio nach ihrer Flinte und richtete den Lauf auf sie.

»Scipio, was machst du?«, rief Wespe entgeistert. »Stell sofort das Gewehr zurück!«

»Ich hab den Flügel!«, sagte Scipio, ohne die Flinte zu senken. »Er hing oben im Schlafzimmer. Also kommt und lasst uns verschwinden.«

»Scipio? Wer ist das nun schon wieder?« Ida Spavento trat ihre Zigarette auf dem Boden aus und verschränkte die Arme. »In meinem Haus wimmelt es ja heute Nacht von ungebetenen Gästen. Eine interessante Maske trägst du da, mein Lieber, so eine ähnliche habe ich auch, nur dass ich sie selten bei Einbrüchen benutze. Aber jetzt stell das Gewehr weg.« Scipio machte einen Schritt zurück.

»Um diesen Flügel ranken sich seltsame Geschichten«, sagte Ida Spavento. »Hat euer Auftraggeber sie euch erzählt?« Scipio beachtete sie nicht. »Wenn ihr jetzt nicht kommt, dann geh ich allein!«, rief er den anderen zu. »Mit dem Flügel. Und das Geld, das ich dafür bekomme, werd ich auch nicht mit euch teilen.« Die Flinte bebte in seinen Fingern. »Kommt ihr jetzt endlich?«, rief er noch einmal. Da machte Ida Spavento einen Schritt auf ihn zu, packte den Gewehrlauf und zog Scipio die Flinte mit einem Ruck aus der Hand. »Schluss jetzt!«, sagte sie. »Das Ding funktioniert sowieso nicht. Und jetzt gib mir meinen Flügel zurück.« Scipio hatte den Flügel in eine Decke eingeschlagen und ihn in Ida Spaventos Badezimmer versteckt, als er die Stimmen auf dem Flur hörte.

»Wir hätten ihn gehabt!«, murmelte er mit düsterer Miene, als er ihr das Bündel vor die Füße legte. »Wenn diese Dummköpfe nicht wie versteinert dagestanden

hätten.« Verächtlich blickte er zu den anderen hinüber, die dicht zusammengedrängt vor der Tür zum Fotolabor standen. Riccio senkte als Einziger zerknirscht den Kopf. Die anderen erwiderten feindselig Scipios Blick. »Halt bloß den Mund! Du bist doch total übergeschnappt!«, knurrte Mosca. »Hier mit einem Gewehr rumzufuchteln.«

»Ich hätte doch nicht geschossen!«, schrie Scipio ihn an. »Ich wollte doch nur, dass wir das Geld kriegen. Ich hätte euch auch alles gegeben. Du hast selbst gesagt, ihr braucht es.«

»Das Geld? Ach ja, natürlich.« Ida Spavento ging in die Hocke und schlug die Decke auseinander, mit der Scipio den Flügel umwickelt hatte. »Wie viel wollte euer Auftraggeber euch denn, wenn ich fragen darf, für meinen Flügel zahlen?«

»Sehr, sehr viel«, antwortete Wespe.

Zögernd trat sie neben die fremde Frau. Da lag der Flügel. Vor ihren Füßen. Die weiße Farbe war verblichen und brüchig, wie bei dem Flügel, dessen Foto der Conte ihnen gegeben hatte. Doch auf diesem waren überall noch Sprengsel von Gold zu entdecken. »Verratet mir seinen Namen.« Ida Spavento schlug die Decke wieder zusammen und richtete sich mit dem Bündel auf. Die Flügelspitze ragte noch aus der Decke. »Ihr verratet mir den Namen eures Auftraggebers und ich erzähle euch, warum er viel Geld für ein Stück Holz bezahlen wollte.«

»Wir wissen seinen Namen nicht«, antwortete Riccio. »Er nennt sich der Conte.« Mosca rutschten die Worte raus, ohne dass er wusste, warum. Er erntete dafür einen finsteren Blick von Scipio. »Was guckst du so, Herr der Diebe?«, fuhr er ihn an. »Warum sollten wir es ihr nicht sagen?«

»Der Herr der Diebe.« Ida Spavento hob die Augenbrauen. »Oh! Da muss ich mich wohl geehrt

fühlen, dass du dich in mein Haus geschlichen hast, was?« Sie warf Scipio einen spöttischen Blick zu. »Na gut, ich brauche jetzt einen Kaffee. Ich vermute, es wartet niemand voll Sorge darauf, dass ihr nach Hause kommt, oder?« Fragend sah sie die Kinder an.

Keiner antwortete ihr. Nur Wespe schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie leise.

»Gut, dann leistet mir Gesellschaft«, sagte Ida Spavento, »und wenn ihr wollt, erzähle ich euch eine Geschichte. Von einem verlorenen Flügel und einem Karussell. - Dir auch«, sagte sie, als sie an Scipio vorbeiging. »Aber vielleicht hat der Herr der Diebe ja noch etwas Besseres zu tun?«

Eine alte Geschichte

Scipio kam mit in Ida Spaventos Küche. Aber er hielt sich abseits, lehnte immer noch in der Tür, als die anderen schon um den großen Tisch herumsaßen. Vor ihnen auf der bunten Tischdecke lag der Flügel. Ida Spavento hatte ihn aus der Decke gewickelt, bevor sie sich ans Kaffeekochen machte.

»Er sieht schön aus«, sagte Wespe und strich vorsichtig mit den Fingern über das Holz. »Es ist bestimmt der Flügel von einem Engel, oder?«

»Von einem Engel? O nein.« Ida Spavento nahm ihre Espressokanne vom Feuer. Der Kaffee zischte in der kleinen Kanne, als sie sie auf den Tisch stellte. »Das ist der Flügel eines Löwen.«

»Eines Löwen?« Ungläubig sah Riccio sie an. Ida Spavento nickte. »Allerdings.« Mit gerunzelter Stirn griff sie in ihre Manteltasche. »Wo sind denn jetzt meine Zigaretten?«

»Riccio!« Mosca stieß Riccio den Ellbogen in die Seite, und Riccio zog mit zerknirschter Miene die Schachtel unter der Jacke hervor. Wespe wurde rot bis an den Scheitel.

»'tschuldigung«, murmelte Riccio. »War nur ein Reflex, kommt nicht wieder vor.« »Na, das will ich hoffen.« Ida Spavento schob die Schachtel in ihre Tasche. Dann holte sie Zucker und eine Tasse für sich, Gläser und Saft für die Kinder. Für Scipio war auch eins dabei, aber er blieb in der Tür stehen. Nur die Maske hatte er abgenommen. »Was ist das nun für eine Geschichte?«, fragte Mosca und goss sich ein Glas Saft ein.

»Geht sofort los.« Ida Spavento hängte den Mantel über die Stuhllehne, trank einen Schluck von ihrem Kaffee und nahm sich eine Zigarette.

»Krieg ich auch eine?«, fragte Riccio.

Ida sah ihn erstaunt an. »Natürlich nicht. Das ist eine ungesunde Angewohnheit.«

»Na, und Sie?«

Ida seufzte. »Ich versuche es mir abzugewöhnen. Kommen wir zu der Geschichte.« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Habt ihr schon einmal die Geschichte vom Karussell der Barmherzigen Schwestern gehört?« Die Kinder schüttelten den Kopf. »Das Waisenhaus für Mädchen im Süden der Stadt«, sagte Riccio, »das gehört auch irgendwelchen Barmherzigen Schwestern.«

»Genau.« Ida rührte sich noch etwas Zucker in ihren Kaffee. »Vor mehr als einhundertfünfzig Jahren, so erzählt man sich, machte ein reicher Kaufmann diesem Waisenhaus ein sehr wertvolles Geschenk. Er ließ auf dem Hof ein Karussell aufbauen, mit fünf wunderschönen Holzfiguren, deren Bild man noch heute über dem Portal des Waisenhauses sieht. Unter einem bunten Baldachin aus Holz drehten sich ein Einhorn, ein Seepferd, ein Wassermann, eine Meerjungfrau und ein geflügelter Löwe. Böse Zungen behaupteten damals, dass der reiche Mann sein schlechtes Gewissen mit diesem Geschenk beruhigen wollte, weil er einst selbst das unerwünschte Kind seiner Tochter vor dem Waisenhaus ausgesetzt hatte, doch andere bestritten das und sagten, er sei ein warmherziger Mann gewesen und habe so seinen Reichtum mit den armen, elternlosen Kindern teilen wollen. Wie dem auch sei, bald sprach man überall in Venedig von dem wunderbaren Karussell, was einiges zu bedeuten hat in einer Stadt, die so reich an Wundern ist wie diese. Aber es dauerte nicht lange, da verbreitete sich das Gerücht, dass durch dieses Karussell rätselhafte Dinge hinter den Waisenhausmauern geschähen.«