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Prosper, Wespe und Bo blieben auf der nächsten Brücke stehen, lehnten sich über die steinerne Brüstung und beobachteten, wie das silbrig graue Wasser die Flocken verschlang. Sacht deckte der Schnee die umstehenden Häuser zu, die rostbraunen Dächer, die schwarzen Balkongitter und die Blätter der Herbstblumen, die hinter den Gittern in Töpfen und Plastikeimern wuchsen. Prosper spürte den Schnee feucht und kalt auf seinem Haar. Und ganz plötzlich erinnerte er sich an ein anderes Land, fast vergessen, fern, an eine Hand, die ihm den Schnee aus den Haaren gestrichen hatte. Und er stand da, zwischen Wespe und Bo, starrte blind auf die Häuser, die sich im Wasser spiegelten, und wagte es, die Erinnerung ein paar Momente lang zu kosten. Verwirrt spürte er, dass es nicht mehr so sehr schmerzte, sich zu erinnern. Vielleicht lag es an Wespe und Bo, so warm und vertraut an seiner Seite. Selbst die steinerne Brüstung unter seinen Fingern schien vertraut und schützte ihn vor dem Schmerz. »Prop?« Wespe legte ihm den Arm um die Schulter und sah ihn besorgt an, während Bo dastand und die Flocken mit der Zunge fing. »Alles in Ordnung?«

Prosper wischte sich den Schnee vom Haar und nickte. »Mach den Umschlag auf«, sagte Wespe. »Ich will erfahren, wann ich den Conte endlich auch zu Gesicht bekomme.«

»Woher willst du wissen, dass er selbst kommt?« Prosper zog den Umschlag aus der Jacke. Er war versiegelt, wie der Umschlag aus dem Beichtstuhl, aber das Siegel sah seltsam aus. Als hätte jemand es mit roter Farbe überpinselt.

Wespe nahm Prosper den Umschlag aus der Hand. »Den hat jemand geöffnet!« Besorgt sah sie Prosper an. »Barbarossa!«

»Macht nichts«, sagte Prosper. »Deshalb hat der Conte Scipio den Treffpunkt schon im Beichtstuhl genannt. Er hat vorausgesehen, dass der Rotbart den Brief öffnen wird. Offenbar kennt er ihn sehr gut.«

Vorsichtig schlitzte Wespe den Umschlag mit ihrem Taschenmesser auf. Bo lugte ihr über die Schulter. Wieder stand die Nachricht des Conte auf einer kleinen Karte, aber diesmal waren es nur ein paar Worte. »Barbarossa hat vor Enttäuschung bestimmt in seinen Schreibtisch gebissen, als er den Umschlag geöffnet hat«, sagte Prosper und las vor:

am verabredeten Treffpunkt auf dem Wasser haltet Ausschau nach einer roten Laterne in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch, 1 Uhr

»Morgen Nacht schon!« Prosper schüttelte den Kopf. »Um ein Uhr. Reichlich spät.« Er schob den Umschlag mit der Nachricht wieder in seine Tasche und zauste Bo das schwarz gefärbte Haar. »Das mit den riesigen Diamanten war wirklich gut, Bo. Habt ihr Barbarossas gierige Augen gesehen?« Bo leckte sich kichernd eine Schneeflocke von der Hand. Aber Wespe blickte voll Unbehagen über die Brückenbrüstung. »Auf dem Wasser?«, murmelte sie. »Wie meint er das denn? Soll die Übergabe etwa auf einem Boot stattfinden?« »Ist doch kein Problem«, antwortete Prosper. »Moscas Boot ist groß genug für uns alle.«

»Stimmt«, sagte Wespe. »Aber es gefällt mir trotzdem nicht. Ich kann nicht gut schwimmen, und Riccio wird schon schlecht, wenn er Boote nur anguckt.« Besorgt sah sie hinunter auf den Kanal, der immer noch die Schneeflocken fraß. Eine Gondel glitt in den Schatten der Brücke. Fröstelnd hockten drei Touristen auf den zugeschneiten Kissen. Wespe beobachtete sie mit finsterer Miene, bis das Boot unter der Brücke verschwand.

»Du magst keine Boote?« Prosper zupfte spöttisch an Wespes dünnem Zopf. »Aber du bist doch hier geboren, ich denk, alle Venezianer lieben Boote.«

»Da denkst du falsch«, antwortete Wespe schroff und drehte dem Wasser den Rücken zu. »Kommt, die anderen warten bestimmt schon.«

Der Schnee machte die Stadt noch stiller als sonst. Wespe und Prosper gingen schweigend nebeneinanderher, aber Bo hüpfte wie ein Floh voraus und summte selbstvergessen vor sich hin. »Ich will nicht, dass Bo mitkommt zu der Übergabe!«, flüsterte Prosper Wespe zu. »Kann ich verstehen«, flüsterte sie zurück. »Aber wie willst du ihm das klarmachen, ohne dass er uns allen das Trommelfell zerschreit?«

»Keine Ahnung«, murmelte Prosper ratlos. »Er ist wirklich furchtbar stur, besonders, wenn ich was sage. Kannst du nicht mit ihm reden?«

»Reden?« Wespe schüttelte den Kopf. »Reden nützt da gar nichts. Nein, ich hätte da eine bessere Idee. Auf die Weise kann ich mich auch um die Bootsfahrt drücken. Nur den Conte werd ich dann wieder nicht zu sehen kriegen.«

Armer, Kranker Viktor

Victor lag im Bett, die Decke über dem Kopf. Seit zwei Tagen lag er so da. Stand nur auf, um zum Klo zu gehen, die Schildkröten zu füttern oder sich unten in der Pasticceria etwas Kuchen zu kaufen. Nicht mal der Schnee draußen auf seinem Balkon konnte ihn aufheitern.

»Erkältet«, brummte er, als die Bäckerin ihn besorgt nach seinem Gesundheitszustand fragte. »Habe mich bei meiner Schildkröte angesteckt.« Dann verkroch er sich mit dem Kuchen wieder im Bett. Er ging nicht ans Telefon und öffnete nicht, wenn es klingelte. Er sah fern, beobachtete die Schneeflocken, die an seinem Fenster vorbeitrieben, und redete sich ein, dass er krank war und deshalb unmöglich die Hartliebs im Hotel Sandwirth treffen konnte. Unmöglich. Nicht zu schaffen. Ganz einfach. Esther Hartliebs Nachricht auf seinem Anrufbeantworter hatte er ohnehin gleich gelöscht. Victor durchforstete die Zeitungen nach Einbruchsmeldungen, aber alles, was er fand, war ein Artikel über einen diebischen Fahrstuhlführer in einem Hotel am Bahnhof. Das erfüllte ihn seltsamerweise mit Erleichterung.

Alles war seltsam, seit er aus seiner Gefangenschaft zurückgekehrt war. Zum Teufel, er wusste nicht, was mit ihm los war. Ständig musste er an diese Kinder denken. Die Stille in seiner Wohnung langweilte ihn plötzlich. Manchmal erwischte er sich dabei, wie er lauschte, aber auf was? Glaubte er, dass die Bande ihn besuchen kam?

Seufzend hob er die Beine aus dem Bett und tapste in sein Büro. Irgendwann werde ich sowieso noch mal bei diesen kleinen Dieben vorbeigucken, dachte er, schließlich haben sie meine falschen Bärte gestohlen. Victor setzte sich hinter seinen Schreibtisch und zog aus dem untersten Fach ein Fotoalbum. Mit gerunzelter Stirn, die Finger klebrig vom Kuchen, blätterte er darin herum. Da waren sie. Seine Eltern. Er hatte nie gewusst, was in ihren Köpfen vorging. Jetzt war er selbst erwachsen, aber er wusste es immer noch nicht. Da, das Kind in dem Kinderwagen, um das seine Eltern so steif herumstanden, das war er, an seinem ersten Geburtstag. Zumindest hatten sie ihm erzählt, dass er das war. Victor konnte sich nicht erinnern, jemals so ausgesehen zu haben, so rund und rosig, mit dichtem dunklem Flaum auf dem Kopf. Er blätterte weiter. An das Gesicht, das er mit sechs Jahren vor die Kamera gehalten hatte, erinnerte er sich schon eher. Sein zwölf Jahre altes Gesicht hatte er vor dem Spiegel oft stundenlang nach Pickeln abgesucht. Aber trotzdem war es ihm fremd, fremd wie das Gesicht eines anderen Menschen.

Victor ließ das Album offen auf dem Schreibtisch liegen und tapste auf Socken zu seinem Spiegel. Die Nase hatte sich nicht allzu sehr verändert. Oder doch? Was war mit den Augen? Er trat so dicht vor den Spiegel, dass er das eigene Spiegelbild in seinen Pupillen sah. Blieben die Augen gleich? Blickte derselbe Victor aus den Augen des Einjährigen oder des Sechsjährigen, der gerade in die Schule gekommen war? Wer steckte dadrin in dem ständig sich wandelnden Körper? Wie konnte er vergessen, wer er mal gewesen war, wie er sich gefühlt hatte mit zwei, mit fünf, mit dreizehn? Victor sah zur Uhr, die neben der Schlafzimmertür an der Wand hing. Zehn Uhr. Was für ein Tag war heute? Ja, wie er befürchtet hatte. Es war Dienstag, der Tag, an dem er sich mit den Hartliebs treffen sollte. Es war ihm nicht gelungen, ihn einfach zu verschlafen. Mit einem Seufzer kehrte Victor in sein Schlafzimmer zurück, stand einen Augenblick unentschlossen zwischen seinem Kleiderschrank und dem verlockend weich und warm aussehenden Bett - und öffnete den Schrank. Was sollte er der spitznasigen Esther und ihrem Mann erzählen? Was wollte er ihnen erzählen? Ich habe keine Ahnung, dachte Victor, während er sich anzog. Auf keinen Fall die Wahrheit.