»Wahrscheinlich ist er auf das Schiff gestiegen, weil er gemerkt hat, dass es hier nicht so paradiesisch ist wie in den Geschichten seiner Mutter«, meinte ihr Mann.
». und dass sie nicht hier ist, selbst wenn es so aussieht wie das Paradies«, murmelte Victor und sah aus dem Fenster. »Nein. Nein. Nein.« Esther Hartlieb schüttelte energisch den Kopf. »Unsinn. Ich habe immer noch das Gefühl, dass er hier ist, und wenn Prosper hier ist, dann ist Bo es auch.« Victor blickte auf seine Schuhe. Es klebte noch etwas Schneematsch daran. Was konnte er sagen?
»Ich habe das Foto vervielfältigen lassen, das Sie uns von den Jungen geschickt haben, Signor Getz«, fuhr Esther Hartlieb fort. »Es kam kurz nach dem Telefonat mit Ihrer Sekretärin bei uns an, und ich habe Plakate davon drucken lassen. Die Belohnung, die wir aussetzen, ist beträchtlich. Ich weiß, Sie haben mir schon einmal davon abgeraten, die Jungen auf diese Weise zu suchen, und ich gebe zu, mit einer Belohnung lockt man immer auch Gesindel an, aber ich werde die Plakate aufhängen lassen, an jedem Kanal, in jeder Bar, jedem Cafe und jedem Museum. Der Auftrag ist sogar schon erteilt. Ich werde Bo finden, bevor er in dieser elenden Stadt an Lungenentzündung oder Schwindsucht stirbt. Man muss ihn vor seinem selbstsüchtigen Bruder schützen!«
Da schüttelte Victor nur müde den Kopf. »Haben Sie es denn immer noch nicht begriffen?«, sagte er ungeduldig. »Die beiden sind nur weggelaufen, weil Sie Bo von diesem Bruder trennen wollten.«
»Was nehmen Sie sich denn für einen Ton heraus?«, rief Esther Hartlieb entgeistert. »Jetzt sollen plötzlich wir schuld an allem sein?«
»Die zwei hängen aneinander!«, rief Victor. »Verstehen
Sie das denn nicht?«
»Wir werden Bo einen Hund schenken«, antwortete Max Hartlieb gelassen. »Sie werden sehen, wie schnell er da seinen großen Bruder vergisst.«
Victor musterte ihn, als hätte der große Mann gerade sein Hemd aufgeknöpft und ihm mit einem Lächeln gezeigt, dass er kein Herz in der Brust hatte. »Beantworten Sie mir mal eine Frage«, sagte Victor. »Mögen Sie eigentlich Kinder?«
Max Hartlieb runzelte die Stirn. Hinter ihm setzte der Schnee den Engeln von San Giorgio weiße Mützen auf. »Kinder allgemein? Nein, nicht unbedingt. Sie sind zappelig, laut und ziemlich oft schmutzig.«
Victor guckte wieder auf seine Schuhe.
». und außerdem«, fuhr Max Hartlieb fort, »haben sie nicht die geringste Ahnung, was wichtig ist.«
Victor nickte. »Tja.«, sagte er langsam, »seltsam, dass aus so nutzlosen Wesen einmal etwas so Großartiges und Vernünftiges wie Sie wird, nicht wahr?«
Dann drehte er sich um und ging. Hinaus aus dem Zimmer mit der wunderschönen Aussicht, den langen Hotelflur hinunter. Im Aufzug klopfte Victor das Herz bis zum Hals, ohne dass er wusste, warum. Die Frau am Empfang lächelte ihm zu, als er durch die Halle ging. Dann blickte sie wieder nach draußen, wo es langsam dunkel wurde und immer noch schneite.
Der Bootsanleger vor dem Hotel war verlassen, als hätte der eisige Wind ihn leer gefegt. Nur zwei eingemummte Gestalten warteten am Wasser auf das nächste Vaporetto. Victor wollte sich erst auch eine Karte kaufen, aber dann beschloss er zu laufen. Er brauchte Zeit zum Denken und ein Spaziergang würde sein aufgebrachtes Herz beruhigen. Zumindest hoffte er das. Müde stemmte er sich gegen den Wind, ging vorbei am Dogenpalast, vor dem gerade die rosafarbenen Laternen aufleuchteten, und stapfte über den Markusplatz, der fast menschenleer in der Dämmerung lag. Nur die Tauben waren noch da und pickten zwischen den verlassenen Kaffeehausstühlen nach heruntergefallenen Krümeln. Ich muss die Jungen warnen, dachte Victor, während der Wind ihm Eisnadeln ins Gesicht blies. Ich muss ihnen erzählen, wie es steht: dass sie bald ein Plakat mit ihrem Foto an jeder Ecke finden werden. Und dann? Was für eine hinterhältige Frage. Wie sollte er das wissen? Er wusste gar nichts mehr. Nur, dass es lausig kalt war. Nicht mal einen Hut habe ich dabei, dachte Victor, und der Weg zu diesem Kino ist weit. Ich werde morgen früh hingehen. Bei Tageslicht hören sich schlechte Nachrichten nicht ganz so schlimm an. Müde machte er sich auf den Weg nach Hause. Vor der Haustür fiel ihm ein, dass er in dieser Nacht noch jemanden beobachten musste. Seufzend stieg er die Treppe hinauf. Für eine heiße Tasse Kaffee war noch Zeit.
Ohne Bo
Die Sacca della Misericordia ragt in das Häusergewirr von Venedig, als hätte das Meer ein Stück aus der Stadt herausgebissen und verschluckt.
Es war Viertel vor eins, als Mosca sein Boot an der letzten Brücke vor der Bucht zum Halten brachte. Riccio sprang ans Ufer und band es an einem der hölzernen Pfähle fest, die aus dem Wasser ragten. Es war eine endlos lange Fahrt gewesen, durch Kanäle, die Prosper noch nie gesehen hatte. In diesem nördlichsten Teil der Stadt war er erst einmal gewesen. Die Häuser hier waren genauso alt, aber nicht ganz so prächtig wie die im Herzen Venedigs. Wie verwunschen spiegelten sie sich auf den Wellen, so still und dunkel. Sie waren nur zu dritt, Mosca, Riccio und er. Wespe hatte Bo zum Abendessen heiße Milch mit Honig gekocht, und er hatte zwei Becher davon getrunken, ohne Verdacht zu schöpfen. Dann hatte sie es sich mit ihm auf ihrer Matratze bequem gemacht, hatte den Arm um ihn gelegt und ihm aus seinem Lieblingsbuch vorgelesen: Der König von Narnia. Schon beim dritten Kapitel hatte Bo zu schnarchen begonnen, den Kopf an Wespes Brust gelegt. Und Prosper hatte sich ganz leise mit Riccio und Mosca davongeschlichen. Wespe hatte versucht nicht allzu besorgt dreinzuschauen, als sie ihnen nachwinkte. »Hört ihr was?« Angestrengt starrte Riccio in die Nacht.
Aus einigen Fenstern drang noch Licht und spiegelte sich auf dem Wasser. Der Schnee sah im Mondlicht seltsam aus, wie Puderzucker auf einer Stadt aus Papier. Prosper blickte den Kanal hinunter. Er glaubte, ein Boot zu hören, aber vielleicht täuschte ihn auch nur seine Ungeduld. Ida Spavento wollte mit ihrem eigenen Boot kommen, und sie sollte Scipio mitbringen.
»Ich glaub, ich hör was!« Vorsichtig kletterte Riccio zurück ins Boot. Mosca stemmte ein Ruder gegen den Holzpfahl, damit das Boot nicht allzu sehr schwankte. »Wird auch Zeit, dass sie auftauchen!«, flüsterte Prosper und sah auf seine Uhr. »Wer weiß, wie lange der Conte wartet, wenn wir uns verspäten.«
Doch jetzt drangen die Motorengeräusche ganz deutlich durch die Nacht. Ein Boot glitt auf sie zu, viel breiter und schwerer als Moscas, schwarz lackiert wie eine Gondel. Ein massiger Mann hockte am Ruder, und hinter ihm, kaum zu erkennen unter dem Schal, den sie sich um den Kopf geschlungen hatte, saß Ida Spavento mit Scipio.
»Na, endlich!«, rief Mosca leise, als das Boot längsseits ging. »Riccio, mach das Seil los.«
Mit einem feindseligen Blick in Scipios Richtung sprang Riccio noch einmal ans Kanalufer.
»Entschuldigt, Giaco hat sich verfahren«, sagte Ida. »Und der Herr der Diebe war auch alles andere als pünktlich.« Sie richtete sich auf und reichte Prosper vorsichtig ein schweres Bündel, den Flügel des Löwen, eingewickelt in eine Decke, verschnürt mit einem Lederband.
»Mein Vater hatte Besuch von Geschäftsfreunden«, verteidigte Scipio sich. »Es war ziemlich schwierig, unbemerkt aus dem Haus zukommen.«
»Wäre kein Verlust gewesen, wenn du es nicht geschafft hättest!«, murmelte Riccio. Prosper hockte sich mit dem Flügel ins Heck des Bootes und hielt ihn fest umklammert. »Am besten, Sie warten mit Ihrem Boot da, wo der Kanal in die Bucht mündet!«, wies Mosca Ida an. »Wenn Sie weiter rausfahren, könnte der Conte Sie entdecken und die Übergabe platzen lassen.« Ida nickte. »Ja, ja, selbstverständlich!«, sagte sie mit gedämpfter Stimme. Ihr Gesicht war blass vor Aufregung. »Meine Kamera musste ich leider zu Hause lassen, weil der Blitz uns verraten würde, aber«, sie zog einen Feldstecher unter dem Mantel hervor, »der hier wird bestimmt ganz nützlich sein. Und einen Vorschlag möchte ich noch machen.« Sie musterte Moscas altes Holzboot. »Wenn der Conte nach der Übergabe auf die Lagune hinausfährt, sollten wir zur Verfolgung besser mein Boot nehmen.«