»Auf die Lagune?« Riccio blieb der Mund vor Schreck offen stehen.
»Natürlich!«, raunte Ida. »Hier in der Stadt könnte er das Karussell nie geheim halten. Aber da draußen auf der Lagune gibt es unzählige Inseln, die nie ein Mensch betritt.«
Prosper und Riccio sahen sich an. In der Nacht auf die Lagune hinaus - der Gedanke behagte ihnen beiden nicht. Aber Mosca zuckte nur die Achseln. Er fühlte sich wohl auf dem Wasser, besonders im Dunkeln, wenn alles still war. Und leer. »Gut, abgemacht«, sagte er. »Mit meinem Boot kann man zum Angeln rausfahren, aber keine Verfolgungsjagd veranstalten. Und wer weiß, was für ein Boot der Conte hat. Sobald wir merken, dass er aus der Bucht rausfährt, rudern wir, so schnell es geht, zu Ihnen zurück und folgen ihm mit dem Motorboot.«
»So machen wir es.« Ida hauchte sich in die kalten Hände. »Ach, wunderbar, so etwas Verrücktes habe ich schon lange nicht mehr gemacht!«, seufzte sie. »Ein echtes Abenteuer! Wenn es bloß nicht so kalt wäre.« Fröstelnd schmiegte sie sich in ihren dicken Mantel.
»Was ist mit dem da?« Riccio wies mit dem Kopf unauffällig auf Idas Bootsführer. »Soll der etwa auch mitkommen?« Mosca und er hatten ihn sofort erkannt: Es war der Ehemann von Ida Spaventos Haushälterin. Er blickte mürrisch wie immer und hatte noch keinen Ton von sich gegeben.
»Giaco?« Ida hob die Augenbrauen. »Der muss mitkommen. Er kann viel besser mit dem Boot umgehen als ich. Außerdem ist er sehr verschwiegen.« »Na gut, wenn Sie es sagen«, murmelte Riccio. Giaco zwinkerte ihm zu und spuckte in den Kanal. »Schluss jetzt mit dem Gerede!« Mosca nahm die Ruder auf. »Wir müssen los.«
»Scipio muss noch mit ins Boot«, sagte Prosper. »Der Conte hat schließlich mit ihm verhandelt. Er würde sich wundern, wenn er nicht dabei wäre.«
Riccio kniff die Lippen zusammen, aber er protestierte nicht, als Scipio in ihr Boot kletterte. Vom Glockenturm von Santa Maria di Valverde schlug es eins, als sie hinaus auf die Sacca della Misericordia ruderten. Nur wenige Lichter spiegelten sich auf dem Wasser. Wie ein Schatten blieb das Boot von Ida hinter ihnen zurück, kaum mehr als ein schwarzer Fleck vor der dunklen Silhouette des Ufers.
Die Insel
Der Conte wartete schon auf sie.
Sein Boot ankerte nicht weit vom Westufer der Bucht. Es war ein Segelboot. Die Positionslampen leuchteten hell über das Wasser, und am Heck hing weithin sichtbar eine rote Laterne. »Ein Segelboot!«, flüsterte Mosca, als sie darauf zuruderten. »Also hatte Ida Recht. Er ist von einer der Inseln gekommen.«
»Bestimmt.« Scipio setzte sich seine Maske auf. »Aber der Wind steht günstig. Da werden wir ihm mit dem Motorboot leicht folgen können.«
»Raus auf die Lagune.« Riccio stöhnte auf. »Oh, verdammt. Verdammt, verdammt.«
Prosper sagte nichts. Er ließ die rote Laterne nicht aus den Augen und hielt das Bündel mit dem Flügel fest umklammert. Der kalte Wind hatte sich fast gelegt und Moscas Boot glitt ruhig über das glatte Wasser. Aber Riccio krallte sich trotzdem am Bootsrand fest und starrte so gebannt auf seine Schuhe, als fürchte er, das Boot würde auf der Stelle umkippen, wenn er auch nur einen Blick auf das schwarze Wasser warf.
Der Conte stand am Heck seines Bootes, in einem grauen weiten Mantel. Er sah nicht so alt und gebrechlich aus, wie Prosper ihn sich nach dem Treffen im Beichtstuhl vorgestellt hatte. Sein Haar war weiß, aber er schien immer noch ein kräftiger Mann zu sein, so aufrecht, wie er da stand. Hinter dem Conte stand noch jemand, kleiner und schmaler als er, schwarz gekleidet von Kopf bis Fuß, aber das Gesicht verbarg eine Kapuze. Als Mosca längsseits ging, warf der zweite Mann Prosper ein Seil mit einem Haken zu, damit die Boote nicht wieder auseinander trieben. »Salve!«, rief der Conte ihnen mit heiserer Stimme zu. »Ich nehme an, euch ist genauso kalt wie mir, also lasst uns das Geschäft schnell hinter uns bringen. Der Winter kommt in diesem Jahr früh.«
»Gut. Hier ist der Flügel.« Prosper reichte Scipio das Bündel und der streckte es vorsichtig dem Conte entgegen. Das schmale Boot schwankte unter Scipios Füßen, er stolperte fast und der Conte beugte sich hastig über den Bootsrand zu ihm hinunter, als fürchte er, das, wonach er so lange gesucht hatte, könnte doch noch verloren gehen. Aber als er das Bündel entgegennahm, sah sein zerfurchtes Gesicht plötzlich wie das eines kleinen Jungen aus, der ein heiß ersehntes Geschenk in den Armen hält. Ungeduldig schlug er die Decke auseinander. »Das ist er!«, hörte Prosper ihn flüstern. Fast andächtig strich der alte Mann über das bemalte Holz. »Morosina, sieh ihn dir an.« Ungeduldig winkte er seinem Begleiter. Der hatte die ganze Zeit am Mast des Bootes gelehnt. Erst als der Conte ihn rief, trat er an seine Seite und schob die Kapuze zurück. Die Jungen sahen überrascht, dass es eine Frau war, nicht viel jünger als der Conte, mit hochgestecktem grauem Haar. »Ja, er ist es«, hörte Prosper sie sagen. »Geben wir ihnen ihren Lohn.« »Erledige du das«, sagte der Conte und schlug die Decke wieder über den Flügel.
Ohne ein Wort reichte die Frau Scipio eine alte Tasche. »Hier, nimm!«, sagte sie. »Und benutz das Geld, um dir einen anderen Beruf zu suchen. Wie alt bist du? Elf, zwölf?«
»Mit dem Geld bin ich erwachsen«, antwortete Scipio, nahm die schwere Tasche entgegen und stellte sie zwischen sich und Mosca ins Boot.
»Hast du das gehört, Renzo?« Die Frau stützte sich auf den Bootsrand und musterte Scipio mit spöttischem Lächeln. »Erwachsen will er sein. So verschieden sind die Wünsche.«
»Den Wunsch wird die Natur ihm bald erfüllen«, antwortete der Conte und schlug das Bündel mit dem Flügel zusätzlich in eine Plane ein. »Mit unseren Wünschen sieht es etwas anders aus. Willst du das Geld noch nachzählen, Herr der Diebe?« Scipio stellte die Tasche auf Moscas Schoß und öffnete sie. »Heiliger Pantalon!«, flüsterte Mosca, nahm ein Bündel Geldscheine heraus und begann mit ungläubigem Gesicht, die Scheine zu zählen. Neugierig beugte Prosper sich über seine Schulter. Selbst Riccio vergaß seine Angst vor dem Wasser und stand auf. Aber als das Boot zu schwanken begann, setzte er sich schnell wieder. »Teufel, hat einer von euch schon mal so viel Geld gesehen?«, flüsterte er.
Scipio hielt prüfend einen Schein vor seine Taschenlampe, zählte die Bündel in der Tasche und nickte Mosca zufrieden zu. »Scheint alles da zu sein«, rief er dem Conte und seiner Begleiterin zu. »Wir zählen es in unserem Versteck noch genau nach.« Die grauhaarige Frau nickte nur. »Buon ritorno!«, sagte sie. Der Conte trat neben sie. Prosper warf ihm das Seil zu, mit dem sie an dem größeren Boot festgemacht hatten, und der Conte fing es auf. »Buon ritorno und viel Glück für die Zukunft«, sagte er. Dann kehrte er ihnen den Rücken zu.
Auf ein Zeichen von Scipio nahmen Prosper und Mosca die Ruder auf und mit jedem Eintauchen der Ruderblätter entfernten sie sich weiter vom Boot des Conte. Die Mündung des Kanals, an der Ida auf sie wartete, schien weit, unendlich weit entfernt, und hinter ihnen, Prosper konnte es trotz der Dunkelheit deutlich erkennen, richtete der Conte den Bug seines Bootes dorthin, wo die Sacca della Misericordia sich zur Lagune öffnete.
Scipio hatte Recht gehabt, der Wind war auf ihrer Seite. Nur sacht kräuselte er das Wasser, und als sie Idas Boot erreichten, war das Segel des Conte immer noch zu sehen. Schnell machten sie Moscas Boot im Schutz der Brücke fest und stiegen um auf das größere Boot. »Nun erzählt schon, ist alles gut gegangen?«, fragte Ida ungeduldig, als die vier an Bord kletterten. »Ich konnte nur sehen, dass er ein Segelboot hat, sonst nichts, ihr wart viel zu weit draußen.«