»Wer ist da auf der Mauer?« Mosca klammerte sich erschrocken an Prospers Arm. »Da stehen zwei weiße Gestalten!«
»Das sind Statuen«, beruhigte Ida ihn. »Steinerne Engel. Jetzt öffnen sie das Tor. Oh, die Hunde sind wirklich groß.« Selbst die Jungen konnten sie sehen, auch ohne das Fernglas: riesige weiße Doggen, groß
wie Kälber. Plötzlich, als hätten sie etwas Ungewohntes gewittert, kehrten sie die Schnauzen dem Wasser zu und begannen zu bellen, so laut und wütend, dass Ida zusammenfuhr und das Fernglas fallen ließ. Prosper griff noch danach, aber der Feldstecher rutschte ihm durch die Finger und landete mit einem lauten Platscher im Wasser. Das Geräusch durchschnitt die Stille wie ein Schuss. Entsetzt presste Riccio die Hände auf die Ohren, als könnte er so ungeschehen machen, was passiert war, während die anderen sich erschrocken im Boot zusammenkauerten. Nur Giaco schien das Ganze nicht aus der Ruhe zu bringen. Ungerührt stand er hinter dem Steuer. »Die haben uns gehört, Signora!«, sagte er gelassen. »Sie sehen in unsere Richtung!« »Stimmt!«, raunte Scipio und lugte über den Bootsrand. »So ein verfluchtes Pech!«
»Tut mir wirklich Leid!«, flüsterte Ida. »O mein Gott! Zieht die Köpfe ein, du auch, Giaco! Ich glaub, die Frau hat ein Gewehr!«
»Auch das noch!« Mosca stöhnte und zog sich die Jacke über den Kopf.
»Na, dich sehen sie doch sowieso nicht!«, zeterte Riccio und kauerte sich mit der Geldtasche auf den Boden. »Aber wir anderen leuchten wie Mondkäse in der Dunkelheit! Ich hab doch gesagt, das ist alle eine Schnapsidee! Ich hab gesagt, wir sollen umdrehen!« »Riccio, halt die Klappe!«, fuhr Scipio ihn an.
Die Doggen drüben auf der Insel bellten immer aufgeregter. In das Gebell mischte sich eine Frauenstimme, laut und ärgerlich, und dann - fiel ein Schuss. Prosper duckte sich und zog Scipio mit nach unten, als das Mündungsfeuer aufblitzte. Riccio begann zu schluchzen.
»Giaco!« Idas Stimme klang scharf. »Dreh um! Sofort!« Ohne ein Wort warf Giaco den Motor an.
»Und was ist mit dem Karussell?« Scipio wollte sich aufrichten, aber Prosper zerrte ihn wieder an seine Seite.
»Das Karussell kann keine Toten zum Leben erwecken!«, rief Ida.
»Gib Gas, Giaco! Und du, Herr der Diebe, lass den Kopf unten!«
Der Motorenlärm dröhnte ihnen in den Ohren und das Wasser spritzte, als Giaco die Isola Segreta hinter sich ließ. Immer kleiner wurde sie, bis die Nacht sie verschluckte.
Zusammengedrängt hockten Ida und die Jungen da, Enttäuschung auf den Gesichtern, Angst, aber auch Erleichterung, dass sie alle mit heiler Haut davongekommen waren.
»Das war knapp!«, sagte Ida und zog sich den verrutschten Schal über die Ohren. »Tut mir Leid, dass ich euch zu diesem Blödsinn überredet habe. Giaco!«, rief sie ärgerlich. »Warum hast du mir die Sache nicht ausgeredet?«
»So was kann man Ihnen nicht ausreden, Signora!«, antwortete Giaco, ohne sich zu ihr umzudrehen.
»Ach, ist doch jetzt auch egal«, meinte Mosca. »Hauptsache, wir haben das Geld.«
»Genau!«, murmelte Riccio, obwohl er noch reichlich verschreckt dreinblickte.
Scipio aber starrte mit finsterer Miene in die schäumende Spur, die das Boot hinterließ.
»Komm, vergiss es«, sagte Prosper und stieß ihn an. »Ich hätte das Karussell auch gern gesehen.«
»Es ist da!«, sagte Scipio und sah ihn an. »Ganz sicher.«
»Na, meinetwegen«, sagte Riccio. »Aber jetzt sollten wir unser Geld zählen.« Als Scipio und Prosper keine Anstalten machten zu helfen, machten er und Mosca sich an die Arbeit, während Ida mit nachdenklichem Gesicht neben ihnen saß und eine Zigarettenkippe nach der anderen in die Lagune warf. Als die ersten Lichter der Stadt sich schon im Wasser spiegelten, zählten Riccio und Mosca immer noch.
Erst als Giaco das Boot in die Sacca della Misericordia zurücksteuerte, klappten sie die Tasche zu. »Scheint zu stimmen«, sagte Mosca. »So ungefähr jedenfalls. Man verzählt sich ja dauernd bei all den Scheinen.«
Ida nickte und musterte die Tasche besorgt. »Habt ihr einen Platz, wo ihr es lassen könnt? Das ist wirklich eine Menge Geld.« Verunsichert blickte Mosca zu Scipio hinüber. Der zuckte nur die Schultern. »Versteckt es da, wo wir das Geld von Barbarossa aufbewahren. Da ist es erst mal sicher.«
»Gut.« Ida seufzte. »Dann setze ich euch jetzt bei eurem Boot ab. Einen warmen Platz zum Schlafen habt ihr ja wohl hoffentlich. Grüß den Kleinen von mir, Prosper, und das Mädchen. Ich.« Sie wollte noch etwas sagen, aber Riccio unterbrach sie, hastig, als müsste er die Worte loswerden, bevor sie ihm die Lippen verbrannten: »Scipio muss woandershin. Vielleicht
können Sie den nach Hause fahren.«
Prosper senkte den Kopf, Mosca spielte mit den Schnallen der Geldtasche und vermied es, in Scipios Richtung zu sehen.
»Ach ja, natürlich.« Ida drehte sich zu Scipio um. »Der Waffenstillstand ist beendet. Willst du wieder zur Accademia-Brücke, wo ich dich abgeholt habe, Herr der Diebe?«
Scipio schüttelte den Kopf. »Fondamenta Bollani«, sagte er leise. »Geht das?«
Wir gehören nicht mehr zusammen, dachte Prosper. Er versuchte sich an seine Wut zu erinnern, an die Enttäuschung, als er entdeckt hatte, dass Scipio sie belogen hatte. Aber er sah nur Scipios blasses, starres Gesicht, die zusammengepressten Lippen, mit denen er wohl die Tränen zurückhielt. Stocksteif saß Scipio da, die Schultern gestrafft, als fürchte er zusammenzufallen, wenn er auch nur einmal Luft holte. Oder einen seiner Freunde ansah. Auch Ida schien zu spüren, wie mühsam er sich beherrschte. »Gut, Giaco, erst zum Boot und dann zur Fondamenta Bollani!«, sagte sie schnell.
Als sie in den Kanal fuhren, in dem Moscas Boot lag, begann es wieder zu schneien, ganz leicht nur, winzige Flocken wehten über das Wasser. Ida bekam eine Flocke ins Auge und musste blinzeln. »Nun ist mein Flügel weg«, sagte sie und blickte hinauf zu den Häusern am Kanalufer. »Wahrscheinlich werde ich die ganze Nacht die Wand über meinem Bett anstarren und mich fragen, ob er jetzt wirklich auf einem Löwenrücken steckt. Oder wer dieser geheimnisvolle Conte und die grauhaarige Frau waren.« Fröstelnd zog sie ihren Mantel enger um sich. »Im warmen Bett lässt sich darüber ja gefahrlos nachdenken.«
Moscas Boot schaukelte friedlich dort, wo sie es zurückgelassen hatten. Eine Katze hatte es sich unter der Ruderbank bequem gemacht und sprang erschrocken ans Kanalufer, als das Motorboot sich näherte.
»Buona notte!«, sagte Ida, bevor Prosper, Riccio und Mosca wieder in ihr eigenes Boot kletterten. »Kommt mich mal besuchen, aber wartet damit nicht, bis ihr erwachsen seid und ich euch nicht mehr erkenne. Und wenn ihr irgendwann mal Hilfe braucht - ich weiß, ihr seid jetzt reich, doch man weiß ja nie -, dann denkt an mich.« Die Jungen sahen sich verlegen an.
»Danke!«, murmelte Mosca und klemmte sich die Tasche des Conte unter den Arm. »Das ist wirklich nett. Wirklich.«
»Wir werden auch bestimmt nie wieder in die Casa Spavento einbrechen. Ganz bestimmt nicht«, fügte Riccio hinzu. Was ihm einen Ellenbogenstoß von Mosca einbrachte. Die beiden kletterten schon von Bord, als Prosper sich noch einmal zu Scipio umdrehte. Mit abgewandtem Gesicht saß der Herr der Diebe da und starrte zu den dunklen Häusern hoch. »Du kannst dir natürlich jederzeit deinen Anteil abholen, Scip«, sagte Prosper.
Einen Augenblick lang dachte er, Scipio würde nicht antworten. Aber dann wandte er sich doch um. »Mach ich«, sagte er und sah Prosper an. »Grüß Wespe und Bo von mir.« Dann drehte er ihm schnell wieder den Rücken zu.
Nur ein Zettel
»Brr, ist das kalt!«, flüsterte Riccio, als sie endlich vor dem Notausgang des Kinos standen. Er tastete nach der Schnur neben der Tür und hielt verblüfft inne. »He, seht mal, die Tür ist nicht verriegelt.« Vorsichtig stieß er sie mit dem Fuß auf. »Wahrscheinlich hatte Wespe Angst, dass sie nicht wach wird, wenn wir die Glocke läuten«, sagte Mosca.