»Warte doch!« Riccio machte hilflos einen Schritt auf ihn zu. »Wir könnten unseren Kram erst mal zu Ida Spavento bringen. Sie hat uns ihre Hilfe angeboten, hast du das schon vergessen? Gut, sie hat wahrscheinlich nicht damit gerechnet, dass wir schon heute auftauchen, aber versuchen können wir es doch.«
»Versucht es«, sagte Prosper. »Mir ist alles egal.« Dann zog er Victors Wohnungstür hinter sich zu.
Hilfe suchend drehten Mosca und Riccio sich zu Victor um. »Was jetzt?«, fragte Riccio.
Aber Victor schüttelte nur den Kopf und starrte den Anrufbeantworter an.
Zuflucht
Idas Haushälterin öffnete, als Riccio an der Vordertür klingelte. Sein struppiger Kopf war kaum zu sehen hinter dem großen Karton, den er trug.
»Kenne ich dich nicht?«, brummte die dicke Haushälterin und schob argwöhnisch ihre Brille hoch. »Stimmt.« Riccio schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln. »Aber jetzt will ich nicht zu Ihnen, sondern zu Ida Spavento.«
»So, so.« Die Haushälterin verschränkte die Arme vor dem gewaltigen Busen. »Das heißt >Signora Spavento<, du Strolch. Und was willst du von ihr, wenn ich fragen darf?«
»Na, jetzt bin ich gespannt«, murmelte Victor, der mit einem noch größeren Karton hinter Riccio stand. Alle Habseligkeiten der Kinder hatten in drei Pappkartons gepasst. Den dritten trug Mosca. Sie mussten wirklich ein seltsames Trio abgeben. Victor wunderte sich, dass die Frau mit dem geblümten Kittel ihnen die Tür nicht vor der Nase zuschlug. Und aus Victors Manteltaschen lugten Bos Kätzchen.
»Sagen Sie, Riccio und Mosca sind hier, dann weiß sie schon Bescheid«, sagte Riccio.
»Riccio und Mosca, das sind zwei.« Die dicke Frau musterte Victor. »Und das, ist das dein Vater?«
»Der? Ach was!« Riccio lachte. »Das ist.« »... sein Onkel«, vollendete Victor den Satz. »Könnten Sie Signora Spavento jetzt bitte Bescheid sagen, bevor mir dieser Karton auf die Füße fällt? Er ist nämlich nicht ganz leicht.« Die Haushälterin warf ihm einen so strengen Blick zu, dass Victor sich auf der Stelle wie ein kleiner Junge fühlte. Aber sie verschwand. Als sie wiederkam, hielt sie wortlos die Tür auf und winkte die drei herein.
Victor war neugierig auf Ida Spavento. »Sie ist ein bisschen verrückt«, hatte Riccio ihm erzählt. »Und sie raucht wie ein Schlot, aber mir wollte sie keine Zigarette geben. Trotzdem, sonst, ist sie nett.«
Victor war sich da nicht so sicher. Mit drei Kindern nachts auf die Lagune hinauszufahren, um einem geheimnisvollen Mann zu folgen, der ihr die kleinen Diebe auf den Hals geschickt hatte - das klang für Victor nicht nett. Verrückt ja. Aber nett? Nein. Doch als er Ida sah, wie sie in ihrem Wohnzimmer auf dem Teppich kniete, in dem viel zu großen Pullover, da mochte er sie. Obwohl er es nicht wollte.
Ida beugte sich gerade über eine Reihe Fotos, die auf dem Boden lagen, schob sie hierhin und dorthin, tauschte sie aus, legte eins zur Seite. »Na, wenn das keine Überraschung ist!«, sagte sie, als die Jungen mit Victor hereintraten. »So schnell habe ich euren Besuch nicht erwartet. Was ist in den Kartons, und woher habt ihr plötzlich einen Onkel?« Sie schob die Fotos zusammen und stand auf. Du meine Güte, dachte Victor, sie trägt Gondelohrringe. »Wir haben ziemlichen Ärger, Ida«, sagte Mosca und stellte seinen Karton ab. Mit einem Seufzer tat Riccio es ihm nach.
»Sind die Hunde von der Dicken da?«, fragte er. »Victor hat nämlich Bos kleine Katzen im Mantel.«
»Du meinst Lucias Hunde? Nein, die haben wir in den Garten gesperrt. Weil sie meine Pralinen gefressen haben.« Ida runzelte die Stirn und sah die Kinder
besorgt an. »Was für ein Ärger? Was ist passiert?« »Jemand hat der Polizei unser Versteck verraten!«, sagte Mosca. Riccios Unterlippe begann zu beben.
»Und die Carabinieri haben Wespe und Bo mitgenommen!«, fuhr Mosca fort. »Prosper ist ganz fertig, weil.«
»Moment.« Ida legte ihre Fotos auf einen kleinen Tisch. »Ich bin heute Morgen noch nicht ganz da. Lasst mich mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe: Ihr hattet ein Versteck, und das hat die Polizei gefunden. Haben sie euch wegen eurer Diebstähle gesucht?« »Nein!«, rief Mosca. »Nur wegen Bo. Weil seine Tante nach ihm sucht. Aber Bo will doch bei Prosper bleiben. Deshalb sind die zwei weggelaufen. Also haben wir sie bei uns versteckt. Bis gestern Nacht war auch alles in Ordnung, aber jetzt hat jemand das Versteck verraten, und Bo ist von seiner Tante geschnappt worden, und Prosper ist ganz verzweifelt, und Wespe haben sie ins Waisenhaus der Barmherzigen Schwestern gebracht, und.«
». und der Conte hat uns Falschgeld angedreht«, sagte Riccio. Er griff in seine Jackentasche und hielt Ida ein Bündel Geldscheine unter die Nase. »Da, alles falsch.« Ida ließ sich in den nächsten Sessel sinken. »Du meine Güte!«, murmelte sie.
Da konnte Victor sich nicht mehr beherrschen. »Diese Kinder haben wirklich schon genug Schwierigkeiten am Hals, Signora Spavento!«, polterte er los. »Und Sie haben dafür gesorgt, dass es noch mehr geworden sind! Aber Sie mussten sie ja unbedingt zu diesem haarsträubenden Abenteuer überreden! Ein nächtlicher Ausflug zur Isola Segreta.«
»Victor, sei still!«, murmelte Mosca.
Ida war rot geworden unter ihrem blond gefärbten Haar. »Ihr habt eurem Onkel alles erzählt?«, fragte sie heiser. »Ich dachte, wir sind Freunde.«
»Er ist doch gar nicht unser Onkel!«, platzte Riccio heraus. »Victor ist ein Detektiv, und er wollte unbedingt mit herkommen. Außerdem hat er uns geholfen, unsere Sachen in Sicherheit zu bringen, und er hat rausgekriegt, dass die Carabinieri Wespe zu den Schwestern gebracht haben.«
»Wespe. Das ist das Mädchen, das mit euch hier war, oder?« Ida spielte mit ihren Ohrringen. »Wisst ihr, die Sache mit Bo und der Tante versteh ich noch nicht so recht, das erklärt ihr mir vielleicht, wenn ich etwas wacher bin. Aber was Wespe betrifft - da müsste sich etwas machen lassen.«
Ida stand auf und nahm eins der Kätzchen aus Victors Manteltasche. Vorsichtig setzte sie es sich auf die Schulter. »Ich hatte so ein ungutes Gefühl, seit wir bei dieser Insel waren«, sagte sie. »Kein Auge habe ich die ganze Nacht zugemacht. Was ist mit Scipio?«
»Der weiß von dem Ärger noch gar nichts«, antwortete Mosca. »Nun, das würde im Moment ja auch nicht viel nützen.« Ida wandte sich wieder Victor zu. »Gut. Was tun wir?« Sie blickte ihn an, als erwarte sie von ihm eine Antwort.
Verdattert erwiderte er ihren Blick. »Was, wir?«,
stammelte er. »Gar nichts können wir tun. Höchstens Prosper daran hindern, sich in die Lagune zu stürzen. Es geht eben nicht gut, wenn ein Haufen Kinder allein zurechtkommen will.«
»Im Waisenhaus kommen sie meist auch nicht allzu gut zurecht!« Ida runzelte ungeduldig die Stirn. »Die Kinder brauchen doch wohl Hilfe, oder glauben Sie, dieser Schlamassel klärt sich von ganz allein, Signor.?«
»Das ist Victor«, sagte Riccio. »Aber Sie können ihn auch Signor Getz nennen.«
Victor warf ihm einen entnervten Blick zu.
»Ich hätte euch gleich alle hier behalten sollen, als ihr mitten in der Nacht bei mir aufgetaucht seid!«, sagte
Ida zu den Jungen. Bos Kätzchen spielte mit ihrem Gondelohrring. »Aber ich dachte, ihr kommt wirklich zurecht - ach was, ich glaube einfach zu gern an Märchen! Ich werde versuchen es wieder gutzumachen. Lucia wird euch etwas zu essen geben und dann bringt ihr eure Sachen nach oben. Unter dem Dach ist noch ein leeres Zimmer. Nur was unternehmen wir wegen Prosper und dem Kleinen? Können wir da irgendwas tun?«
»An Bo kommen wir nicht heran«, antwortete Victor mit abweisender Miene. »Keine Chance. Seine Tante hat das Sorgerecht. Und seinen großen Bruder sollten wir im Auge behalten, er war ziemlich verzweifelt, als wir ihn zuletzt gesehen haben. Riccio, traust du dir zu, Prosper zu finden, auch wenn er nicht vorm Gabrielli Sandwirth steht?«