Prosper antwortete nicht. »Geh weg, Riccio«, sagte er, ohne die Augen von den Hotelfenstern zu wenden. »Alles ist kaputt. Wir haben kein Versteck mehr, Wespe ist weg und Bo ist bei Esther.«
»Wespe ist nicht weg!«, rief Riccio so laut, dass sich die Leute nach ihm umdrehten. Schnell senkte er die Stimme. »Sie ist nicht weg!«, flüsterte er. »Ida und der Schnüffler haben sie rausgeholt aus dem Waisenhaus, in das man sie gesteckt hatte!«
»Ida und Victor?« Ungläubig sah Prosper ihn an. »Ja, und weißt du was, sie haben richtig Spaß daran gehabt.
Du hättest die beiden sehen sollen, wie sie loszogen, eingehakt wie ein altes Ehepaar.« Riccio kicherte. »Der Schnüffler benimmt sich wie ein echter Gentleman, er hält Ida die Tür auf und hilft ihr in den Mantel. Nur die Zigaretten zündet er ihr nicht an, wegen dem Rauchen nörgelt er mit ihr rum.«
»Aber wie haben sie das geschafft?«
Riccio stellte zufrieden fest, dass Prosper das Hotel offenbar für ein paar Augenblicke vergessen hatte. »Wespe ist in das Waisenhaus der Barmherzigen Schwestern gebracht worden, in dem ist Ida doch auch mal gewesen«, erzählte er mit leiser Stimme. »Na, jedenfalls, sie spendet da wohl öfter Geld, sammelt Spielzeug, all so was. Victor sagt, die Nonnen haben sie wie die Jungfrau Maria behandelt und ihr alles geglaubt, was sie gesagt hat. Er brauchte nur daneben stehen und wichtig gucken.«
»Das ist wirklich eine gute Nachricht.« Prospers Blick kehrte zu den Fenstern zurück. »Grüß Wespe von mir. Geht es ihr gut?«
»Nein, tut es nicht!« Riccio stellte sich so, dass Prosper ihn einfach ansehen musste. »Weil sie sich nämlich um dich Sorgen macht. Um Bo auch, aber der wird wahrscheinlich nicht in die Lagune springen.«
»Glaubt sie etwa, dass ich so was vorhabe?« Ärgerlich stieß Prosper Riccio zurück. »So ein Blödsinn. Ich hab Angst vor Wasser.«
»Na, wunderbar, erzähl ihr das selber, bitte!« Riccio hob flehend die Hände vor Prospers Gesicht. »Ich hab sie nur kurz gesehen, als ich mir heute Mittag was zum Essen abgeholt hab. Dieses ganze Gesuche nach dir macht hungrig, weißt du, aber Wespe hat mich kaum fertig essen lassen.« Er verstellte seine Stimme. »>Nun geh schon, Riccio!<«, flötete er. »>Du musst doch gleich platzen, Riccio. Such Prosper. Bitte! Vielleicht hat er sich in irgendeinen Kanal geworfen!< Sogar mitkommen wollte sie, aber Ida hat gesagt, sie soll besser eine Weile im Haus bleiben, damit sie nicht gleich wieder im Heim landet. War mir nur recht, ihr Gerede hätte mich verrückt gemacht. Außerdem wusste ich ja, dass du irgendwann hier auftauchst.«
Riccio entdeckte ein Lächeln auf Prospers Gesicht, ein ganz kleines, aber es war da. »So«, sagte er. »Jetzt hab ich genug geredet. Morgen früh kannst du dich wieder hier hinstellen, aber jetzt kommst du mit.« Prosper antwortete nicht, aber er ließ sich von Riccio mitziehen, vorbei an den Andenkenständen, die überall auf der Riva degli Schiavoni standen. Viele Händler bauten ihre Stände um diese Zeit schon ab, aber an einigen konnte man noch etwas kaufen: die
Plastikfächer, die Bo so mochte, mit schwarzer Spitze und der Rialtobrücke darauf, Korallenketten, Gondeln aus goldfarbenem Kunststoff, Stadtführer, getrocknete Seepferdchen. Prosper folgte Riccio durch das Gedränge, aber immer wieder blieb er stehen und blickte zum Gabrielli Sandwirth zurück. Als Riccio ihn dabei ertappte, legte er ihm tröstend den Arm um die Schulter. Er musste sich etwas recken dafür, schließlich war er ein ganzes Stück kleiner als Prosper.
»Komm schon. Wenn Ida und Victor es geschafft haben, Wespe zurückzuholen«, sagte er, »dann schaffen sie es auch bei Bo, du wirst sehen!«
»Sie fliegen Anfang nächster Woche nach Hause«, sagte Prosper. »Was dann?«
»Das ist noch lange hin«, antwortete Riccio und schlug fröstelnd den Kragen hoch. »Außerdem sitzt Bo nicht im Gefängnis oder im Heim. Mann, das ist das Sandwirth. Das ist ein verdammt vornehmes Hotel.« Prosper nickte nur. Er fühlte sich so leer. Leer wie die großen Muscheln, die in Körben vor den Ständen lagen. Wunderschön sahen sie aus, nur ein winziges Loch in der schimmernden Schale verriet manchmal, dass ihnen irgendwer das Leben herausgesaugt hatte. »Warte mal, Prop.« Riccio war stehen geblieben. Über der Lagune verfärbte sich der Himmel. Es wurde dunkel, obwohl es gerade erst vier Uhr war. Ein paar Touristen standen wie gebannt am Kai und beobachteten, wie die untergehende Sonne das schmutzige Wasser mit Gold überzog.
»Was für eine Gelegenheit!«, flüsterte Riccio Prosper zu. »Bei dem Anblick merken die nicht mal, wenn ich ihnen die Schuhe klaue. Ich brauche bloß ein paar Sekunden. Guck dir die Muscheln an, bis ich zurück bin.«
Er drehte sich um, hatte schon sein unschuldigstes Ich- bin-nur-ein-magerer-Junge-und-kann-kein- Wässerchen-trüben-Gesicht aufgesetzt, als Prosper ihn am Kragen festhielt. »Lass das, Riccio«, sagte er ärgerlich, »oder glaubst du, Ida Spavento lässt dich in ihrem Haus schlafen, wenn die Carabinieri dich beim Klauen erwischen?«
»Du verstehst das nicht!« Gekränkt versuchte Riccio sich aus seinem Griff zu befreien. »Ich will nicht aus der Übung kommen.« Aber Prosper ließ ihn nicht los, und Riccio ging mit einem tiefen Seufzer weiter, während die Touristen den Sonnenuntergang bestaunten, ohne ihr Entzücken mit ihren Geldbörsen bezahlen zu müssen.
Alles verloren
An diesem Abend gab es in Idas Haus ein Fest. Den ganzen Nachmittag hatte Lucia, die Haushälterin, gekocht, gebraten und gebacken, hatte Sahne geschlagen und winzige Kuchen vom Blech geschaufelt, Ravioli geformt und Soßen gerührt. Immer wieder lockte ein anderer Duft Victor hinunter in die Küche, aber sobald er zu naschen versuchte, bekam er mit dem Holzlöffel eins auf die Finger. Prosper und Wespe deckten zusammen den Tisch im Esszimmer, während Mosca und Riccio sich von einem Stockwerk ins andere jagten, gefolgt von Lucias kläffenden Hunden. Die beiden waren so ausgelassen und glücklich, sie schienen sich nicht einmal mehr darüber zu ärgern, dass der Conte sie betrogen hatte. »Wir können es doch trotzdem ausgeben«, hatte Riccio gesagt, als Victor ihn gefragt hatte, was sie mit all den Geldbündeln nun vorhatten. Daraufhin hatte Victor fürchterlich geschimpft und verlangt, dass Riccio ihm die Tasche sofort geben sollte. Aber Riccio hatte nur grinsend den Kopf geschüttelt und verkündet, dass er und Mosca die Tasche versteckt hätten. An einem sicheren Ort, wie er sagte. Nicht mal Wespe und Prosper wussten, wo, aber die beiden schien das auch nicht sonderlich zu interessieren.
Also beschloss Victor, sich ebenfalls keine Gedanken mehr über das Falschgeld zu machen, setzte sich auf das Sofa in Idas salotto, naschte Pralinen und versuchte sich zu überreden, nach Hause zu gehen. Um seine Schildkröten zu füttern und etwas Geld zu verdienen. Aber jedes Mal, wenn er sich mit einem Seufzer erheben und verabschieden wollte, brachte Ida ihm ein Glas Grappa oder einen caffe oder bat ihn, Zahnstocher auf den Esstisch zu stellen. Und Victor blieb.
Während es draußen dunkel wurde und der Mond seine Stadt wieder in Besitz nahm, brachte Ida ihr altes Haus zum Leuchten, als solle es dem blassen Mondlicht Konkurrenz machen. Es war unmöglich, all die Kerzen zu zählen, die sie anzündete. Am Kronleuchter über dem Esstisch brannte nur jede zweite Glühbirne, aber das Kristallglas glitzerte so wunderbar, dass Wespe kaum den Blick davon wenden konnte.
»Kneif mich!«, sagte sie zu Prosper, als sie die Teller gedeckt, das Besteck hingelegt und genug Gläser für alle auf den großen, dunklen Tisch gestellt hatten. »Das hier kann nicht echt sein.« Prosper gehorchte. Ganz sacht kniff er sie in den Arm. »Es ist echt!«, rief Wespe und tanzte lachend um ihn herum. Aber selbst ihre Ausgelassenheit konnte den traurigen Ausdruck nicht von Prospers Gesicht scheuchen. Sie alle hatten es schon auf ihre Weise versucht, Riccio mit Scherzen und Mosca, indem er Prosper all die Seltsamkeiten zeigte, die Idas Haus hinter dunklen Türen verbarg. Nichts half, weder Idas Süßigkeiten noch Victors Versicherungen, dass ihm wegen Bo schon noch etwas einfallen würde. Bo war nicht da. Und er fehlte Prosper, wie ihm ein Arm oder ein Bein gefehlt hätte. Es tat ihm Leid, dass er den anderen ihre Freude verdarb mit seinem traurigen Gesicht, er merkte, wie Riccio begann ihm aus dem Weg zu gehen und Mosca die Flucht ergriff, wenn er ihn sah. Nur Wespe blieb weiter in seiner Nähe. Doch wenn sie voll Mitleid versuchte, ihn in den Arm zu nehmen, dann schob er sie schnell weg, rückte die Gabeln auf dem Tisch zurecht oder hockte sich vor ein Fenster und starrte nach draußen.