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Scipio sah ihn an und spielte mit dem Band seiner Maske. »Ich würde hinfahren«, sagte er. »Mit dir zusammen. Ich will auf diesem Karussell fahren, und wenn der Conte mich nicht lässt, dann hol ich mir den Flügel zurück. Komm mit, Prop, ja? Was hast du noch zu verlieren, jetzt, wo Bo weg ist?«

Prosper musterte seine Hände. Kinderhände. Er dachte an den herablassenden Blick, mit dem ihn der Portier im Gabrielli Sandwirth gemustert hatte, und an seinen schrankgroßen Onkel, wie er neben Bo hergegangen war, die Hand besitzergreifend auf Bos schmaler Schulter. Und plötzlich wünschte Prosper sich, dass Scipio Recht hatte. Dass dort draußen auf dieser unheimlichen Insel etwas auf sie wartete, das aus klein groß und aus schwach stark machte. Und dieser Wunsch machte sich breit in der Leere, die sein Herz erfüllte. Ohne ein weiteres Wort sprang er hinüber in Scipios Boot.

Sie Isola Segreta

Es war eine dunkle Nacht. Immer wieder verschwand der Mond hinter den Wolken. Obwohl Scipio seinem Vater eine Seekarte gestohlen hatte, nach der sie sich richten konnten, kamen sie zweimal vom Weg ab. Beim ersten Mal brachte sie der Anblick der Friedhofsinsel auf den richtigen Kurs zurück, und als Murano aus der Nacht auftauchte, wussten sie, dass sie zu weit nach Westen gefahren waren. Dann endlich, als sie schon so durchgefroren waren, dass sie kaum noch ihre Finger spürten, tauchte aus der Nacht die Mauer der Isola Segreta auf, bleichgrau vom Laternenlicht. Die steinernen Engel blickten zu ihnen herüber, als hätten sie sie erwartet. Scipio drosselte den Motor. Das Boot des Conte schaukelte mit eingezogenem Segel am Steg, und Prosper hörte die Hunde anschlagen.

»Was nun?«, flüsterte er Scipio zu. »Wie willst du an den Doggen vorbeikommen?«

»Meinst du, ich bin so verrückt, über das Tor zu klettern?«, antwortete Scipio leise. »Wir versuchen es auf der Rückseite.« Prosper hielt das für keinen sonderlich klugen Plan, aber er sagte nichts. Wenn sie auf die Insel wollten, blieb ihnen wohl nichts anderes übrig.

Das Hundegebell verstummte erst, als sie das Licht der Laternen längst hinter sich gelassen hatten. Scipio steuerte das Boot dicht am Ufer entlang, auf der Suche nach irgendeinem Schlupfloch in der Mauer. An einigen Stellen ragte sie direkt aus dem Wasser, an anderen erhob sie sich aus Schilf und Schlick, aber sie schien die ganze Insel zu umgeben. Schließlich ging Scipio die Geduld aus. »Schluss, wir klettern rüber!«, flüsterte er, stellte den Motor aus und warf einen Anker ins Wasser. »Und wie kommen wir ans Ufer?« Prosper starrte beunruhigt in die Dunkelheit. Etliche Meter Wasser lagen noch zwischen dem Boot und der Insel. »Willst du etwa schwimmen?«

»Unsinn. Hilf mir mal.« Scipio zerrte aus einer Klappe unter dem Steuer zwei Paddel und ein Schlauchboot. Prosper staunte, wie schwer ein bisschen Gummi und Luft sein konnten, als er Scipio half, es über die Reling zu hieven.

Der Atem hing ihnen weiß vor den Mündern, als sie zur Insel paddelten. Sie versteckten das Schlauchboot in dem Schilf, das am Fuß der Mauer wuchs. Aus der Nähe betrachtet sah sie noch höher aus. Prosper legte den Kopf in den Nacken, blickte an ihr hinauf und fragte sich, ob die Doggen wirklich nur das Tor bewachten. Als die Jungen nebeneinander oben auf dem schartigen Sims hockten, ging ihr Atem schwer und ihre Hände waren wund geschürft. Aber sie hatten es geschafft. Vor ihnen lag ein Garten, ein riesiger verwilderter Garten. Sträucher, Hecken, Wege, alles war weiß vom Raureif.

»Siehst du es irgendwo?«, fragte Scipio.

Prosper schüttelte den Kopf. Nein, er sah kein Karussell, nur ein großes Haus. Dunkel ragte es aus den Bäumen. Die Mauer hinunterzuklettern war fast noch schwerer als hinaufzukommen. Die Jungen landeten in dichtem Dornengestrüpp, und als sie sich endlich daraus befreit hatten, standen sie unschlüssig da und wussten nicht, in welche Richtung sie sich zuerst wenden sollten.

»Das Karussell muss hinter dem Haus stehen«, flüsterte Scipio, »sonst hätten wir es von oben gesehen.«

»Stimmt«, murmelte Prosper und sah sich um. Zwischen den kahlen Büschen knackte es, und etwas Kleines, Dunkles huschte über den Weg. Prosper entdeckte Spuren in dem dünnen Schnee, Vogelspuren und die Abdrücke von Pfoten. Ziemlich großen Pfoten. »Komm, wir versuchen es mit dem Weg da!«, flüsterte Scipio und ging voran.

Moosbewachsene Steinfiguren standen zwischen den Büschen, manche waren fast unter den wuchernden Zweigen verschwunden und streckten nur noch die Arme oder den Kopf heraus. Einmal glaubte Prosper, Schritte hinter sich zu hören, aber als er herumfuhr, flatterte nur ein Vogel aus einer verwilderten Hecke. Es dauerte nicht lange, bis sie sich verirrt hatten. Bald waren sie nicht einmal mehr sicher, in welcher Richtung das Boot lag oder das Haus, das sie von der Mauer aus gesehen hatten. »Verdammt! Willst du mal vorgehen, Prop?«, fragte Scipio, als sie an einer Wegkreuzung ihre eigenen Spuren im Schnee entdeckten. Aber Prosper antwortete nicht.

Er hatte wieder etwas gehört. Doch diesmal war es kein Vogel, den sie aufgeschreckt hatten. Es klang wie ein Hecheln, kurz und scharf, und dann kam ein Knurren aus der Dunkelheit, leise, tief und so bedrohlich, dass Prosper das Atmen vergaß. Langsam drehte er sich um, und da standen sie, kaum drei Schritte entfernt, als wären sie aus dem Schnee gewachsen. Zwei riesige weiße Doggen. Er hörte Scipio neben sich schneller atmen.

»Rühr dich nicht, Scip!«, flüsterte er. »Wenn wir weglaufen, jagen sie uns.«

»Beißen sie auch, wenn man zittert?«, flüsterte Scipio zurück. Die Hunde knurrten immer noch. Mit gesenkten

Köpfen kamen sie näher, das kurze, bleiche Nackenhaar gesträubt, die Zähne gebleckt. Gleich werden meine Beine loslaufen, dachte Prosper. Sie werden einfach loslaufen, ohne dass ich irgendetwas dagegen tun kann. Verzweifelt kniff er die Augen zu. »Bimba! Bella! Basta!«, rief eine Stimme hinter ihnen. Die Hunde hörten abrupt auf zu knurren und sprangen an Prosper und Scipio vorbei. Verwirrt drehten die Jungen sich um und blinzelten in das Licht einer Taschenlampe. Ein Mädchen, vielleicht acht, neun Jahre alt, stand hinter ihnen auf dem Weg, fast unsichtbar in dem dunklen Kleid, das es trug. Die Doggen reichten ihr beinahe bis zur Schulter, sie hätte auf ihnen reiten können. »Sieh einer an!«, sagte sie. »Wie gut, dass ich so gern im Mondlicht spazieren gehe. Was sucht ihr hier?« Die Hunde spitzten die Ohren, als sie die Stimme hob. »Wisst ihr nicht, was mit Leuten passiert, die sich auf die Isola Segreta schleichen?« Scipio und Prosper sahen sich an.

»Wir wollen zum Conte«, antwortete Scipio, als wäre nichts dabei, mitten in der Nacht in einem fremden Garten herumzuspazieren. Vielleicht klang er auch so mutig, weil Prosper und er beide größer waren als das Mädchen. Aber Prosper fand, dass die Doggen das mehr als aufwogen. Sie standen neben ihr, als würden sie jeden zerreißen, der ihr zu nahe kam.

»Zum Conte. So, so. Macht ihr eure Besuche immer nach Mitternacht?« Das Mädchen leuchtete Scipio ins Gesicht. »Der Conte mag keine unangemeldeten Besucher. Schon gar nicht, wenn sie sich heimlich auf seine Insel schleichen.«

Dann richtete sie die Taschenlampe auf Prosper. Verlegen blinzelte er in das grelle Licht.

»Wir hatten eine Abmachung mit dem Conte!«, rief Scipio. »Aber er hat uns betrogen. Und das werden wir nur hinnehmen, wenn er uns auf dem Karussell fahren lässt. Auf dem Karussell der Barmherzigen Schwestern.«

»Ein Karussell?« Das Mädchen blickte nur noch feindseliger. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«

»Wir wissen, dass es hier ist! Zeig es uns!« Scipio machte einen Schritt auf sie zu, doch die Doggen entblößten sofort die Zähne, und Scipio wich an Prospers Seite zurück. »Wenn der Conte uns darauf fahren lässt, gehen wir auch nicht zur Polizei.«